Dienstag, Oktober 09, 2007

Der Vilna Gaon und sein Disput mit den Chassidim

B"H

Wie immer gibt es zu dem Thema unendlich viel Literatur und ich gebe in diesem Beitrag nur einen kleinen Einblick in die Materie. Eigentlich verdient jeder einzelne aufgeführte Aspekt einen eigenen Artikel. Ein Vorhaben, was ich auf etwas später verschieben muss.

An dieser Stelle möchte ich nur einmal kurz die Ereignisse auflisten, die zum Disput zwischen den litvish – haredischen Juden unter der Führung des Gaon aus Vilna (Vilnius) und den Chassidim geführt haben. Es gibt Unmengen zu sagen, doch beschränke ich mich vorerst auf die historischen Ereignisse.
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Vilna Gaon 

Geboren wurde Rabbi Eliyahu ben Shlomo Zalman am 23. April 1720 in Vilna oder in der Nachbarstadt Seltz. Sein Familienname KREMER taucht in kaum einer Literatur auf und er selbst benutzte ihn nie. Die Namen, unter denen er zu Lebzeiten bekannt war und heute noch bekannt ist sind der "Gaon von Vilna" oder ganz einfach der GRA. Im religiösen Judentum ist ein Gaon gleichzusetzen mit einem Genie und das Wort GRA ist eine Abkürzung der Anfangsbuchstaben der Bezeichnung "Gaon Rabbi Eliyahu". 

Schon im frühen Alter von drei Jahren wurde sein Genie erkannt. Im Alter von sieben Jahren kannte er einige Talmud Traktate sogar auswendig. Sein Thora – und Talmudstudium ging ihm über alles und er behielt diese Philosophie bis an sein Lebensende bei. 

Aber nicht nur jüdische Schriften hatten es ihm angetan; wie viele andere berühmte Rabbiner auch lernte er gleichzeitig Sekuläres wie Mathematik, Algebra, Geometrie und Astronomie. Es heißt, dass der Vilna Gaon dermaßen in Thoragedanken vertieft war, daß es ihm sogar schwerfiel, auf der Toilette an etwas anderes zu denken. Im Judentum (siehe Shulchan Aruch – Code of Jewish Law) sind Gebet sowie Thorastudium an verschmutzten Orten verboten und Rabbi Eliyahu entwickelte demnach seine eigene Methode dieses Verbot einzuhalten. Auf der Toilette widmete er seine Gedanken der Mathematik. Keine einzige Minute in seinem Leben sollte an weltliche materielle Gedanken verschwendet werden. 

Schon im frühen Alter heiratete er Channah, die Tochter von Rabbi Yehudah Leib von Kaidan, die ihm zwei Söhne gebar: Aryeh Leib und Avraham. 

Im Buch "The Vilna Gaon and his Diciples" der israelischen Bar Ilan University schreibt Shaul Stampfer in seinem Essay "On the Creation and Perpetuation of the Image of the Vilna Gaon", dass der GRA mindestens acht Kindern gehabt haben muss. 

Um den Gaon von Vilna zu verstehen, müssen wir einen Blick in die damalige Geschichte werfen. Was genau hatte sich ereignet ? 

Im 17. Jahrhundert hatte ein Jude, der sich selbst zum Meschiach ernannte, grosse Aufmerksamkeit erregt und zugleich Unheil gebracht. Sein Name war Shabtai Zvi und unglücklicherweise fielen nicht gerade wenige Juden auf dessen falsche Prophezeihungen herein. Sein jüdischer Nachfolger Jacob Frank behauptete nach dem Tode Zvis dessen Wiedergeburt zu sein und verleitete in den Jahren 1759 – 1760 mehrere Hundert Juden dazu, zum Christentum überzutreten. Rechtfertigen tat Frank diesen Schritt mit der Konversion Shabtai Zvis zum Islam. Schon damals gab es die Idee, dass jemand in tiefe Abgründe steigen muss, um dann wieder spirituell aufzusteigen und so den Meschiach zu bringen. Eine Ansicht der Anhänger Shabtai Zvis, welche später den Chassidim zum Verhängnis werden sollte. 

Später, zu Lebzeiten des Gaon von Vilna, gab es einen Juden, der unbegrenzte Berühmtheit zu erlangen schien. Der Baal Shem Tov (1698 – 1760). 

Israel Baal Shem Tov war alles andere alles ein grosser Talmud – Gelehrter. Tatsächlich ist es Gershom Sholem zufolge recht ungewiß, über welche Talmud – bzw. Shulchan Aruch Kenntnisse der Baal Shem Tov verfügte. Außer Zweifel steht, dass er über hervorragende Kenntnisse über Rashi, den Ramban, den Maharsha, die talmudischen Kommentatoren in Ein Yaakov, dem kabbalistischen Zohar sowie einem der kompliziertesten kabbalistischen Bücher, dem "Brit Menucha", hatte. 

Der Baal Shem Tov zog über die Dörfer und verkaufte als sogenannter Wunderheiler religiöse Amulette und machte hier und da auch schon einmal eine Austreibung eines Dybbuk ("eines bösen Geistes"). Nebenbei diente er als Begleiter für Kinder, die er in den Cheder (relig. Schule) bringen sollte. Im Alter von 14 Jahren hatte er sich große Kenntnisse in der Kabbalah angeeignet.
Aufgrund seines großen Erfolges bei Heilungen strömten die Leute in Scharen zu ihm. Zuerst weigerte er sich, diese überhaupt zu empfangen, doch dann änderte er seine Meinung. Fälschlicherweise wurde der Baal Shem Tov als Magier gesehen, doch führte er, nach eigenen Angaben, seine Heilungen nur anhand von Gebeten aus. Er benutzte keine Magie, sondern betete mit grosser Kavanah (Konzentration) für die Leute und in vielen Fällen war er überaus erfolgreich. 

Es heißt, dass der Baal Shem, oder in Kurzform nur der BESCHT genannt, im Jahre 1746 am jüdischen Neujahrsfest Rosh HaShana eine himmlische Vision hatte, in der es hieß, daß er, der Baal Shem Tov, das Kommen des Meschiach einleiten wird. Nämlich dann, wenn seine Lehren weltweit bekannt und berühmt geworden sind. 

Im Zeitalter des Baal Shem Tov dürsteten religiöse Juden nach Spiritualität. Fanden doch in den Jahren 1648 – 1649 die Chmielnitzki – Massaker statt, bei der Abertausende von Juden ermordet worden waren. Danach war das jüdische Volk in Osteuropa in eine Art spirituellen Angrund gefallen und sah seine Situation als aussichtslos. Sie saßen in der unseeligen Diaspora und die feindlich eingestellte Umwelt traktierte sie mit Progromen. Des Weiteren gab es unzählige verarmte Juden, die ihr Dasein von der Hand in den Mund fristeten. 

Schnell verbreitete sich die Lehre des Baal Shem Tov, der den Juden wieder neue Hoffnung zu geben schien. Der ganz große Verdienst des Besht ist, dass er gerade die "kleinen Leute" an die jüdische Religion heranführte und daß er die ehemaligen Anhänger Shabtai Zvis zum orthodoxen Judentum zurückbrachte. Der Baal Shem Tov propagandierte, u.a., die Lehre, daß ein Gebet voll und ganz vom Herzen kommen muss und keineswegs vom Verstand. Wer denkt, der verliert sich in Gedanken und das Gebet ist dahin. Eine seiner wichtigsten Lehren ist, daß G – tt überall ist. Es gibt keinen möglichen Ort, an dem Er nicht vorhanden ist. Natürlich sind die Studien der Thora und des Talmuds ungeheuer wichtig, doch kann ein jeder seine alltäglichen Handlungen in etwas Heiliges umwandeln. Jeder Jude kann voll und ganz mit G – tt verbunden sein indem er ständig an Seinen Schöpfer denkt. 

Diese und andere Lehren machten den Baal Shem vor allem bei der jüdischen Landbevölkerung und den sozial Benachteiligten berühmt. Plötzlich waren sie nicht mehr die verachtete ungebildete Masse, wie sie von den damaligen litvishen gebildeten Thoraschülern betrachtet wurden. Die Chassidut des Baal Shem Tov bezeichnete sie als gleichwertig und plötzlich begannen die sogenannten jüdisch – sozialen Unterschichten sich für Religion zu interessieren. 

Diese Ereignisse der damaligen Zeit führten zu einer schnellen Ausbreitung der chassidischen Bewegung. Eine Popularität, die von den bisher herrschenden litvishen Juden, den Thoragelehrten, mit Skepsis gesehen wurde. 

Der amerikanische Autor Elijah Judah Schochet, ein Nachfahre des Gaon von Vilna, beschreibt die jüdischen Gemeinden zur Zeit des Vilna Gaon sowie der Ausbreitung des chassidischen Movements (siehe sein Buch "The Hasidic Movement and the Vilna Gaon").
In Litauen wurden viele Gemeinde von korrupten Vorstehern und einem ebenso korrupten Rabbinat gelenkt. Und das meistens auf Kosten der ärmeren jüdischen Bevölkerungsschicht. Rabbiner und Gemeindevorsteher nutzten ihre Macht nur zu ihrem eigenen Vorteil und gingen auch schon einmal hier und da Kompromisse mit den nichtjüdischen politischen Herrschern ein.
Auch Rabbi Eliyahu, der Gaon, wurde gewisser Unregelmässigkeiten beschuldigt. Es gebe Fehlbestände in diversen Kassen und im Jahre 1786 behaupteten seine Kritiker, dass er keinen einzigen Penny in die Gemeindekasse gegen wuerde. Historiker sehen jedoch in diesen Vorwürfen eine Attacke der Chassidim. 

Rabbi Eliyahu sah den Chassidismus mit großer Besorgnis. Als sich dann auch noch Chassidim in Vilna niederließen und ihre eigene Minyan bzw. Synagoge gründeten, war das Maß voll. Er selber sah sich als der Prophet Eliyah (Eliyahu HaNavi), der das juedische Volk vor dieser g – tteslästernden neuen Sekte retten müsse. 

Zum ersten großen Clash kam es schon im Jahre 1772 als eine Epidemie in Vilna ausbrach. Normalerweise suchten nichtjüdische Bewohner gewohnheitsmäßig Sündenböcke dafür und um zu vermeiden, dass die gesamte jüdische Gemeinde dazu auserkoren wird, wurde innerhalb der Gemeinde ein ganz besonderer Sündenbock ausgewählt und den Nichtjuden präsentiert: die Chassidim. Dies geschah mit der Zustimmung des Gaon von Vilna gleichzeitig sprach er einen Bann (Cherem) über sämtliche Chassidim aus. Der erste Bann, dem noch mehrere folgen sollten. 

Der Bann besagte, chassidische Bücher zu verbrennen, Chassidim keine Unterkunft zu gestatten, keinerlei Hochzeiten mit Chassidim und das Essen der Chassidim wurde als unkoscher angesehen.
In der Stadt Brody ging man sogar soweit zu behaupten, dass das geschächtete Fleisch der Chassidim unkoscher sei. Allerdings geschah dies offensichtlich nicht aus halachischen Gründen. Litvishe Juden und Chassidim benutzten unterschiedliche Messer bei der Schächtung von Tieren, aber beide Rituale sind halachisch einwandfrei. 

Der Bann machte die Chassidim zu Outlaws der litvishen Gesellschaft und das besondere Ziel des Gaon von Vilna war der Gründer von Chabad, Rabbi Shneur Zalman von Liadi. 

Was waren die genauen Gründe für die ablehnende Haltung den Chassidim gegenüber ? 

Die ablehnend feindliche Haltung der litvishen Juden brachte ihnen den Namen MITNAGDIM ein. Ein MITNAGED ist jemand, der etwas ablehnt. Die Bezeichnung Mitnagdim ist heute noch genauso verbreitet wie damals.

Für die Mitnagdim und ihr Oberhaupt, dem Gaon von Vilna, war es unvorstellbar, dass die arme ungebildete Bevölkerung mit dem Wissen der Kabbalah konfrontiert wurde. Das Kabbalahstudium sollte nur von jenen ausgeführt werden, die älter als 40 Jahre sind, religiös und über ein grosses Thora – sowie Talmudwissen verfügen. Bis zum dem Zeitpunkt war die Lurianische Kabbalah, auf der sich die Baal Shem Tov beruft, nur für wenige Auserwählte zugänglich. Plötzlich sollte alles anders werden ? Für den Gaon von Vilna unvorstellbar. 

Ein ganz wichtiger Aspekt fuer die Ablehnung war selbstverständlich Shabbatai Zvi. Die Chassidim wurden als dessen Anhänger betrachtet und die Chassidut als eine Weiterführung der Lehre jenes G – tteslästerers. Grund zu der Beschuldigung gab auf alle Fälle auch die geographische Lage, denn stammte doch die chassidische Bewegung aus Polen und Galizien. Ebenso kamen die Prediger der Zvi – Bewegung aus den unteren Bevölkerungsschichten. Eine Tatsache, die auch auf die Chassidim zutraf. Und genauso wie Zvi, predigten die Chassidim den sogenannten "Abstieg" ins Böse, um später spirituell aufzusteigen und so das Gute aus dem Bösen ziehen. Eine Idee des Baal Shem Tov sowie seines Nachfolgers Dov Baer von Mezritch, dem Maggid von Mezritch. 

Aber noch ganz andere entscheidene Unterschiede zum bisherigen religiösen Judentum machten dem Gaon von Vilna zu schaffen. Zum einen das ewige chassidische Thema des Zaddik (Gerechten). Nur ein Zaddik habe bestimmte Kräfte und andere müssen sich ihm anschliessen, um so näher an G – tt geführt zu werden. Ein Konzept, welches durch den inoffiziellen Nachfolger Rabbi Dov Baers, Rabbi Elimelech von Lizhensk, noch erweitert wurde. 

Außerdem beschuldigten die Mitnagdim die Chassidim, das Thora – und Talmudstudium komplett zu vernachlässigen und sich stattdessen in wilde Gebetsekstasen zu ergeben. Tanzen, wild beten und singen sollte zu einer grösseren Naehe G – ttes fuehren ? 

Die oftmals weiße Kleidung der Chassidim fiel genauso negativ auf. Überhaupt könne die ganze Ekstase nur durch Alkohol oder diverse Formen von Tabak erreicht werden, so die Meinung der Mitnagdim. Andere Erklärungen gab es für sie nicht, denn waren sie doch nur ersthaft konzentriertes Thorastudium gewohnt. Die manchmal wild herumlaufenden Chassidim waren ihnen nicht geheuer. 

Die Chassidim richteten weiter ihre eigenen Synagogen ein und dann geschah etwas, dass der Gaon von Vilna als Bruch innerhalb des Judentums ansah. Die Chassidim veröffentlichten ihr eigenes Sidur (Gebetbuch). Neben dem Nussach Ashkenaz gab es ab sofort das Nussach Sepharad. Sepharad deshalb, weil einige sephardische Riten übernommen wurden und gleichzeitig die kabbalistische Aspekte des Rabbi Yitzchak Luria mit im Sidur auftauchten. Kabbalah fuer jedermann ?

Den größten Widerstand der Mitnagdim riefen die Chassidim allerdings durch ihren weit verbreiteten Brauch die Gebete später zu sagen als halachisch vorgeschrieben, hervor. Die drei täglichen Gebete im Judentum (Shacharit – Morgengebet, Mincha – Nachmittagsgebet sowie Maariv – Abendgebet) sind genauestens im Shulchan Aruch (Code of Jewish Law) festgelegt. Heutzutage stehen die Uhrzeiten in jedem jüd. – religiösen Kalender. 

Nicht nur, dass die Chassidim Wert auf das Kabbalahstudium legten, ihre eigenen Synagogen bauten, ein eigenes Sidur (Gebetbuch) einführten und den Lehren des Baal Shem Tov folgten, nein, sie änderten auch noch die Gebetszeiten und verschoben sie auf später. Für alle Widersacher des Chassidismus war diese Tatsache der ausschlaggebende Punkt, dass es sich bei den Chassidim um G – tteslästerer und Gesetzesbrecher der Halacha handele.

Die hier aufgelisteten Gründe der zeitlichen Verschiebung der Gebete habe ich dem Buch "BeSadeh HaChassidut" des Yitzchak Alfassi übernommen:

1. Der Baal Shem Tov selber sagte, dass zu dem Zeitpunkt, an dem ein Jude betet, der "Satan" neben ihm stehe und verhindere, dass die Gebete zu G – tt aufsteigen. Von daher sei es besser, später zu beten.

2. Rabbi Yitzchak Meir von Gur sagte, dass später gesprochene Gebete von G – tt persönlich empfangen und nicht durch die Engel übermittelt werden.

3. Der Ohev Israel, Rabbi Avraham Yehoshua Heshel von Apta, sagte, daß ein Chassid, der spät betet, alle vorherigen Gebet, die nie aufgestiegen sind, durch seine Gebet mit aufsteigen lassen kann.

4. Der Seher von Lublin, Rabbi Yaakov Yitzchak Horowitz, sagte, daß wir nur dann beten sollen, wenn wir uns unserer Liebe zu G – tt bewußt sind und uns nicht einfach so hinstellen und beten, weil die Zeit dafür gekommen ist.

Eine weitere Tatsache, welche Chassidim bis heute von den Mitnagdim des Gaon von Vilna unterscheidet ist, dass vor dem Gebet meditiert wird. Erst nach der Meditation, die den Sinn hat, sich absolut von weltlichen Gedanken zu lösen, kann ein aufrichtiges Gebet mit der erforderlichen "DEVEKUT - Nähe", stattfinden. Eine Praxis, die schon Rabbi Menachem Mendel von Kotzk (der Kotzker Rebbe) verfolgte. Dennoch stammt diese Idee keinesfalls aus der Chassidut, sondern ist schon in einer Mishna im Talmud Berachot 30b verankert:

"Die Gerechten zu früheren Zeit meditierten für eine Stunde und dann erst begannen sie ihr Gebet. Auf diese Art und Weise lösten sie sich vollkommen von ihren weltlichen Gedanken und waren aufgrunddessen imstande, ihre Herzen direkt zu G – tt zu richten".

Hierzu eine kleine Anmerkung: Die im Talmud angegebenen Zahlen sind nicht immer wörtlich zu nehmen. Die hier genannte Stunde kann sich genauso auf mehrere Stunden oder einige Minuten beziehen. 

Nicht nur im Talmud ist jener Gebetsablauf festgelegt. Auch der Shulchan Aruch (Orach Chaim 98:1) gibt ausführliche Auskunft darüber. 

Allgemein wurde das Jahr 1772 zum Schicksalsjahr der neuen chassidischen Bewegung. Im Frühjahr kam es, wie schon erwähnt, zum handfesten Clash mit den Mitnagdim und dann verstarb auch noch der nicht unumstrittene Nachfolger des Baal Shem Tov. Nicht unumstritten deshalb, weil nicht alle den Maggid, Rabbi Dov Baer von Mezritch, als den uneingeschränkten Nachfolger des Bescht akzeptierten. Im Gegenteil, viele ehemalige Schüler des Bescht wandten sich ab und gingen ihrer eigenen Wege. Erst sechs Jahre nach dem Tode des Bescht, wurde der Maggid allgemein anerkannt, wobei es während dieses Zeitraumes zum heftigen Streit mit dem Lieblingsschüler des Baal Shem Tov, Rabbi Yaakov Yosef von Polonoye, kam. All dies führte dazu, daß sich der Chassidismus nicht mehr auf einen Ort konzentrierte, sondern sich ausbreitete. Es ist unklar, warum der Sohn des Maggid, Rabbi Avraham HaMalach die Nachfolge seines Vaters nicht antrat. Entweder wurde er als unfähig gesehen oder er verzichtete selbst darauf.

Eine weitere inhaltliche Differenz bildete das Thema: ZIMZUM. 

Der Zimzum ist der metaphorische Rückzug G – ttes bei der Erschaffung der Welt. Hätte Er dies nicht getan, so ware eine perfekte Welt mit absolute perfekten Einwohnern entstanden, aber G – tt hatte andere Pläne und wollte, dass wir Wesen mit einem freien Willen sind. 

Die Chassidut besagt, dass sich G – tt jedoch niemals ganz zurückzog, sondern immer nahe bei uns ist. In allem, was wir sehen, ist ein Funke G – ttes. Die Mitnagdim andererseits vertreten die Meinung, dass G – tt sich sehr wohl zurückzog. 

Der Gaon von Vilna wird nur allzu gern als kalt und emotionslos dargestellt. Nicht, dass sein Charakter mit dem heiteren fröhlichen Tisch eines chassidischen Rebbes gleichzusetzen ist. Der GRA hielt in Vilna keine rabbinische Position inne noch leitete er eine Yeshiva (relig. Schule). Vielmehr umgab er sich mit einem kleinen Kreis ausgesuchter Thoraschüler, wobei sein berühmtester Schüler Rabbi Chaim von Volozhin (1749 – 1821) war. 

Er hatte ein einen starken Willen und legte unendlich viel Wert auf Selbstdisziplin, Selbstkontrolle und den Verzicht auf jegliche Form von Materialismus. Seine angebliche Kälte stellte sich vielfach als falsch heraus, denn gerade der GRA half vielen Menschen aus finanzieller Not. 

Eine weitere Anklage gegen den Gaon von Vilna hörte ich immer wieder in der Zeit, in welcher ich bei Chabad Jerusalem lernte. Neben seiner Kälte sei der GRA gegen jegliche kabbalistische Studien gewesen und hätte nur wenig oder besser gar keine Ahnung von der Kabbalah gehabt. Später stieß ich auf den Kommentar des Gaon zum Buch Jonah und der Kommentar stellte sich als mehr als kabbalistisch heraus. Er war wider aller negativen Behauptungen ein Genie auf dem Gebiet der Kabbalah und ich nenne an dieser Stelle nur seine brillianten Kommentare zum Abschnitt des Zohar "Sifra Di'Zniuta" oder dem "Sefer Yetzirah" (Book of Creation). 

Besonders bei Chabad werden bis heute bissige Kommentare über den Gaon von Vilna verbreitet, was nichts Neues ist. Schon der Gründer von Chabad, Rabbi Shneur Zalman von Liadi (auch Baal HaTanya oder Alter Rebbe genannt), legte sich gern mit allen möglichen Widersachern an, um seine eigene interpretierte Form des Chassidismus an den Mann bzw. die Frau zu bringen. Bestes Beispiel hierfür sind natürlich die heftigen Dispute mit dem Gaon von Vilna und einem Enkelsohn des Baal Shem Tovs, Rabbi Baruch von Medzhiboz. 

Rabbi Shneur Zalman sah sich liebend gern als den Enkel des Baal Shem Tovs in spiritueller Hinsicht, obwohl er ihm nie persönlich begegnet war, sondern erst unter dem Maggid von Mezritch (Rabbi Dov Beer) lernte. 

Rabbi Shneur Zalman beschuldigte den Gaon von Vilna, nicht an die Kabbalah des berühmten Kabbalisten, Rabbi Yitzchak Luria, zu glauben (siehe Autor Elijah Schochet). Laut dem israel. Autor Emmanuel Etkes sind diese Anschuldigungen falsch. Der GRA respektierte sehr wohl die Meinungen der Lurianischen Kabbalah. Allerdings sah er sie nicht als bindend an wie, zum Beispiel, den Zohar. 

Rabbi Shneur Zalmans Anschuldigung kann allein schon durch die Tatsache widerlegt werden, daß der Gaon von Vilna mehr als 70 Bücher schrieb, wovon 35 kabbalistische Kommentare waren. 

Rabbi Shneur Zalman von Liadi hingegen betrachtete die Lurianische Kabbalah als direkte Offenbarung des Eliyahu HaNavi (dem Propheten Eliyah). Bis heute basiert die gesamte Chassidut Chabad auf der Lurianischen Kabbalah und man wird diesbezüglich keinerlei Kritik an Rabbi Yitzchak Luria hören. Was dieser sagte, ist bei Chabad Gesetz. 

Um den Disput etws zu entschärfen, machten sich im Jahre 1777 (1775 ?) die zwei Rabbis, Rabbi Shneur Zalman von Liadi sowie Rabbi Menachem Mendel von Vitebsk, auf nach Vilna, um den Gaon zur Rede zu stellen. Man beabsichtigte, ihm die chassidische Seite der Medaille nahezubringen, denn bisher kannte der Gaon diese nur aus Erzählungen der ihm nahestehenden Personen. Leider wurden die beiden Besucher nicht vorgelassen und es heißt, daß der GRA sogar aus seiner Hintertür schlüpfte, nur um die beiden nicht zu sehen. Eine verpasste Gelegenheit. 

Im Jahre 1797 veröffentlichte Rabbi Shneur Zalman von Liadi sein berühmtes TANYA. Ein Buch, welches die Grundzüge der Chabad – Doktrin enthält und eine Art Sammelsurium aus dem Zohar, Lurianischer Kabbalah und anderen ist. Der GRA las den TANYA und stellte gewisse Unstimmigkeiten fest. Zum Beispiel bei der Zimzum – Idee (inwieweit sich G – tt nach der Erschaffung der Welt zurückzog) und der Idee des Baal Shem Tov, daß negative Gedanken in Positives umgewandelt werden können. Eine der Lehren des Baal Shem Tovs und nicht des Rabbi Yitzchak Luria. Der Vilna Gaon sah in vielen Lehren des Tanya eine Form der G – tteslästerung. Rabbi Shneur Zalman wiederum sah die geistige Größe im Gaon, doch niemals erkannte er dessen Authorität an. 

Der jüdische Philosoph Gershom Sholem war der Ansicht, daß nicht wenige Chassidim absichtlich die Komplexität der Lurianischen Kabbalah ignorierten. Stattdessen entwickelten sie eine einfachere persönlichere und weniger intellektuelle Form des Lurianischen Vorbildes. Der Autor Moshe Idel beweist dies in seinem Buch "Die Geschichte der Kabbalah", in dem er schreibt, daß in vielen chassidischen Zirkeln die Kabbalah des Rabbi Moshe Cordovero (Vorgänger Lurias) bevorzugt wurde. Die Lurianische Kabbalah wurde so vereinfacht, daß auch Otto Normalverbraucher einen Zugang zu ihr bekam und so kam es vor, daß viele Mißinterpretationen zum eigentlichen Original entstanden. Die Chassidim ersetzten die extreme schwierige Technik der Kavanot (Konzentration) mit höchst emotionalem und enthusiastischen Gebet. Dieses wurde zum ersten Mal unter dem Maggid von Mezritch praktiziert. 

Nach dem Tode des GRA im Oktober 1797 machte sich sein berühmtester Schüler, Rabbi Chaim von Volozhin, daran, die kabbalistischen Ideen des Gaon aus Vilna zu verbreiten. Sein Buch "Nefesh Chaim" ist eine glänzende Erklärung dazu. Fünf Jahre nach dem Tode seines Lehrers gründete er die weltweit bekannte Yeshiva Volozhin, welche im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Mit der Yeshiva hielt das Mussar – Movement (Ethik) Einzug, dessen bekanntester Lehrer Rabbi Israel Salanter (1810 – 1883) werden sollte. 

Das Ereignis, welches urplötzlich alle Diskrepanzen zwischen den Chassidim und den Mitnagdim beseitigte, war das Aufkommen der Haskalah (Aufklärung). Obwohl die ersten Mitglieder der Haskalah durchaus noch orthodoxe Juden waren, führte schon kurz darauf alles ins Reformjudentum. Die Thora wurde zur wissenschaftlichen Studie und G – ttes Wille war gänzlich vergessen. Die Maskilim (Aufklärer) wurden zum gemeinsamen Feind des Chassidim sowohl als auch der Mitnagdim. Die Haskalah beabsichtigte, die Juden besser in die europäische Gesellschaft zu intergrieren und besonders der Mittelstand und Kaufleute sprangen auf den Zug der neuen Zeit auf. 

Ehemalige litvishe (litauische) Thorazentren wie Telz, Mir, Ponebezh oder Volozhin existieren heute nur noch in Israel oder den USA, denn die Nazis machten in Litauen alles Jüdische dem Erdboden gleich. Selbst die Synagoge des Gaon blieb vom Feuer nicht verschont und heute können wir nur noch deren nachgebautes Modell im Tel Aviver Diaspora Museum bestaunen.

Die bekanntesten Personen, welche ihren familiären Ursprung im litvishen Judentum hatten, sind:

Rabbi Avraham Yitzchak HaCohen Kook (1865 – 1955),
Rabbi Dov Soloveitchik,
Marc Chagall,
Saul Bellow (Litvak Yiddish),
Simon Dubnov aus Riga (1860 – 1941),
Rabbi Ovadiah Yosef folgt der Schule des Chaim von Volozhin,
Bob Dylan,
Benjamin Netanyahu (richtiger Name: Benjamin Milikowsky)


Meine Quellen bezog ich aus der Literatur folgender Autoren:

Yitzchak Alfassi, Emmanuel Etkes, Elijah Schochet, Allan Nadler sowie David Assaf 

Natürlich blieb vieles unerwähnt, denn, wie schon angedeutet, ist die Materialfülle zu groß für nur einen einzigen Artikel. In der Zukunft plane ich Näheres über die Studien des Gaon von Vilna zu schreiben.

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