Samstag, Dezember 03, 2011

Die Flucht frommer Juden nach Tel Aviv

B"H

Tel Aviv = Sin City

So lautet der Spruch, mit dem viele Israelis die Stadt Tel Aviv identifizieren. Säkuler, vollgepackt mit sündhaftem Verhalten (was immer das auch bedeuten mag) und insgesamt recht seltsam. Ein richtiger Tel Avivi interessiere sich nicht für sein Land, sondern ausschliesslich für sich selbst.

Warum aber kommen dann allwöchentlich Hunderte von frommen Juden ausgerechnet nach Sin City ? Immer donnerstags traben sie an, verbringen die Nacht in billigen Hotels oder Hostels und reisen freitags mittags wieder zurück nach Hause oder in die Yeshiva (relig. Schule). Natürlich ohne ihren Rabbinern und der relig. Umwelt zu berichten, wo sie die letzte Nacht verbracht haben. Das Gegenteil ist der Fall, denn am Schabbat geben viele von ihnen eine Drasha (relig. Ansprache) und lästern nicht selten darin so richtig über Tel Aviv ab.

Wir haben Mitglieder sämtlicher jüd. – relig. Richtungen anreisen: Yeshiva Studenten, zum Beispiel. Die Mehrheit der anreisenden Haredim (ultra – orthodoxen Juden) gehören dem litvischen Movement an. Nationalrelig. kommen eher selten. 

Ein ca. 60 – jähriger Litvak richtet sich mindestens einmal pro Monat in einem bestimmten Etablissement ein. Eine Stunde lang allein in einem angemieteten Zimmer und danach geht er wieder. Das Zimmer ist sein kleines Geheimnis und er kommt jedesmal mit einem der Stadtbusse. Vermutlich aus dem benachbarten Bnei Brak und ich nehme an, dass er Rabbiner ist. Sehr distinguiert schaut er aus und niemand würde je vermuten, dass er ein “Zimmer – Geheimnis” hat.  

Viele Haredim kommen mit ihren kleinen Geheimnissen nach Tel Aviv. Nicht jeder hat vor, sich in den Sündenpfuhl der Stadt zu werfen, sondern sucht einfach ein paar Stunden lang ein Entkommen aus seinem regulären Leben. Frei sein, ohne dass die eigene Gesellschaft kontrolliert, was man tut und wie man sich verhält. Kurzfristig einfach nur das tun, was einem Spass macht und sei es nur im Kaffeehaus zu sitzen und TV schauen. Wer kann schon nonstop fromm sein ? Menschen benötigen einen Ausgleich und oft auch eine Distanz zu ihrem Alltag. Egal, ob jemand einen schwarzer Hut oder eine Perücke trägt (wie verheiratete haredische Frauen), es ist unmöglich, die ganze Zeit über in religiöse Bücher zu schauen.

Es ist nicht immer die Yetzer HaRah (die schlechte Seite in einem jeden von uns) welche selbst fromme Juden auf einen Ausflug nach Tel Aviv führt. Vielmehr ist es die menschliche Sehnsucht nach Freiheit sowie dem Ausleben der eigenen Persönlichkeit. Dies kann einfach nur Kaffeetrinken, spazierengehen oder der Gang zum Strand sein. Und zwar ohne, dass die Umwelt denjenigen sofort richtet, wie es daheim der Fall ist.

Hätten die Haredim nicht ihre regelmässige Flucht in unsere Stadt, würden viele von ihnen in ihrer eigenen Gesellschaft durchdrehen.

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