B"H
Viele Außenstehende scheinen von orthodoxen Juden eine recht seltsame Meinung zu haben. Demzufolge laufen orthodoxe Juden mit recht komischen Klamotten herum; die Männer in schwarzen Anzügen, mit der Kipa auf dem Kopf, einem Hut oder sogar Streimel (Pelzmütze) und die Frauen tragen nur lange ausgebeulte Röcke und Perücken. Des Weiteren folgen orthodoxe Juden irgendwelchen altmodischen Thoragesetzten, assimilieren sich nicht und lehnen alles und jeden von außen Kommenden ab. Kurz gesagt, sie sind dämlich, fundamentalistisch und weltfremd.
Derlei Meinungen bestehen nicht nur außerhalb Israels, sondern auch in Israel.
Gerade die jüdische Orthodoxie jedoch spaltet sich in unzählige kleine Gruppen auf, von denen aber alle ein gemeinsames Ziel und gemeinsame Ansichten haben. Die Thora wurde von G – tt an Moshe auf dem Berg Sinai gegeben, das Jüdische Volk ist zu ihrer Einhaltung verpflichtet, der Talmud beinhaltet das mündl. Gesetz G – ttes (die Mischna) sowie die rabbinischen Diskussionen (Gemara) und alle Halachot (Gesetze) sind einzuhalten. In der Thora steht selbst, dass ihr nichts hinzugefügt oder etwas herausgenommen werden darf und sie auf alle Zeiten Gültigkeit haben wird.
Bis zur Gründung der Reformbewegung, waren alle Juden als orthodox einzustufen. In anderen Worten, es gab nichts anderes und überhaupt waren derlei Unterteilungen gänzlich unbekannt. In Israel gibt es bis heute keine Umschreibung für die Orthodoxie, sondern man bezeichnet sich als religiös oder sekulär. Erst danach folgt die individuelle Einstufung eines jeden als nationalrelig., haredi – litvish oder chassidisch oder sonst irgendwie orthodox.
Nicht alle Orthodoxen laufen mit bestimmten Klamotten herum und sehen stattdessen ganz "normal" aus. Die wenigsten, die ich kennen lernte sind verbohrte Spiesser oder Fundamentalisten. Man muß nicht immer religiös sein, um mit ihnen zu reden, doch sollte man ihnen einen gewissen Respekt entgegenbringen, um auch ihren Respekt zu ernten. Wer von vornherein die Leute als zurückgeblieben oder Dossim (Abwertung der Haredim – Ultra – Orthod.) bezeichnet, der braucht sich über entsprechende negative Reaktionen nicht zu wundern.
Für Orthodoxe ist es jedoch ganz normal, den Freundes – bzw. Bekanntenkreis innerhalb der Orthodoxie zu suchen. Ich kann da gut von mir selbst sprechen, denn ich hätte keine große Lust oder Zeit mich bei eventuell sekulären Freunden für mein Verhalten zu rechtfertigen. Außerdem bin ich nicht bereit mir anzuhören, wie jemand am Shabbat seinen Kuchen buk oder wohin er zu Rosh HaShana (jüd. Neujahr) fuhr. Das interessiert mich einfach nicht.
Wir Religiösen haben eine gemeinsame Sprache, die innerhalb der relig. Gesellschaft (egal, ob nationalrelig. oder haredisch) verstanden wird. Wenn ich mit einigen Sekulären spreche, muß ich vielerorts erst diverse relig. Ausdrücke und Ansichten erklären und dann kommen ggf. Diskussionen über deren Richtigkeit auf. Auch hierauf habe ich ehrlich gesagt wenig Lust. Wenn jemand fragt, bin ich gerne bereit, zu antworten, doch will ich überflüssige Endlosdiskussionen vermeiden.
Die Orthodoxie hat ihre eigene Flexibilität, ihre eigene Gesellschaft und ihr eigenes Leben entwickelt. Es ist durchaus möglich, dass dies den Eindruck erweckt, dass alles Sekuläre draussen bleibt und keinen Platz hat. Diese Ansichten muß jeder Orthodoxe mit sich selbst ausmachen. Leute, die reguläre Bücher lesen, ins Kino gehen oder wenn die Frauen nicht immer einen Rock, sondern auch einmal eine Hose anziehen, werden gerne als modern – orthodox bezeichnet. Die orthod. Gesellschaft selbst kennt nicht immer den Begriff "modern – orthodox" und viele lehnen ihn ab. Selbst diejenigen, die eigentlich als modern – orthodox gelten. Entweder ist man orthodox oder nicht, aber ein "modern" gibt es nicht.
So mancher mag sich jetzt denken, dass wir den ganzen Tag "nur herumbeten", koscherem Essen hinterherjagen und uns in unseren Ghettos einigeln. Dem ist gewiß nicht so, denn auch wir haben einen normalen Tagesablauf. Natürlich werden dabei bestimmte Regeln eingehalten, aber ansonsten führen wir ein ganz normales Leben.
Allgemein hat die Orthodoxie nach außen hin ein Public Relation Problem. Anscheinend können wir uns nicht so gut verkaufen wie andere und wenn andere Unwahrheiten über uns verbreiten, stehen wir meist tatenlos daneben.
Warum tatenlos ?
Weil wir einfach keine Lust haben, uns vor jedem Hansel zu rechtfertigen. Das geht mir genauso, wenn ich im Internet Tausende von Unwahrheiten über die orthodoxe Welt lese. Seit längerem meide ich diese Sites und denke mir, wieso sollte ich da etwas richtig stellen. Diejenigen, die ein wirkliches Interesse aufbringen, fragen auf orthod. Sites nach und wer das halt nicht will, der soll seine Klischees über die Orthodoxie auf entsprechenden Sites lesen und sich nicht wundern, wenn ihn hinterher mit seinem Gerede niemand für voll nimmt.
Eines jedoch lernt auch die Orthodoxie, wenn auch extrem langsam. Wir müssen uns unseren internen Probleme stellen und lernen damit umzugehen. Dies allerdings ist ein langwieriger Prozess und kann nicht von heute auf morgen gelöst werden. Vielleicht stehen gerade diese internen Schwierigkeiten so weit oben auf der Prioritätenliste, dass wir uns um gar nichts anderes mehr kümmern; sprich die Imageaufpolierung.
Wie alles auch immer sei, die Orthodoxie wird auch weiterhin bestehen. Wahrscheinlich mehr als jede andere Richtung, denn wie die Statistiken zeigen, laufen Juden anderer Richtungen dem Judentum davon, sprich sie heiraten Nichtjuden. Und ausgerechnet der Orthodoxie ist es zu verdanken, dass das Judentum bis heute weiterbesteht und in der Zukunft auch bestehen bleibt.
Sonntag, Dezember 09, 2007
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"Bis zur Gründung der Reformbewegung, waren alle Juden als orthodox einzustufen. In anderen Worten, es gab nichts anderes und überhaupt waren derlei Unterteilungen gänzlich unbekannt."
AntwortenLöschenDas ist eine sehr gewagte Behauptung. Sie ähnelt der Behauptung, dass Abraham schon alle Mitzwot der Thora befolgt hat. Die Orthodoxie war eine Reaktion auf Emanzipation und Reform. Vor der Emanzipation gab es keine Orthodoxie, und ob alle Juden durch die Zeiten wirklich alle Mitzwot eingehalten haben, darf bezweifelt werden. Es gibt einfach zu viele Klagen über das einfache Volk, das in Befolgung der Mitzwot zu nachlässig ist. Und keine Unterteilungen? Was ist mit den sog. Sadduzäern? Was ist mit den Karäern?
"Wie alles auch immer sei, die Orthodoxie wird auch weiterhin bestehen. Wahrscheinlich mehr als jede andere Richtung, denn wie die Statistiken zeigen, laufen Juden anderer Richtungen dem Judentum davon, sprich sie heiraten Nichtjuden."
Wie auch der Orthodoxie die Juden davonlaufen. Evtl. landen sie dann bei den anderen Richtungen. Das sind dann u.U. diejenigen, die später nicht-jüdisch heiraten. Wer wird zum Schuldigen dafür gemacht? Natürlich das Reformjudentum. Und was ist mit den Charedim dem Aussehen nach, denen es aber nicht schwer fällt, am Schabbat die Vergnügungsstätten Tel Avivs aufzusuchen?
B"H
AntwortenLöschenHallo Micha,
Dein Kommentar zeigt mir, dass Du viele meiner Artikel komplett missverstanden hast und genau diese Argument sind es, die es mich davon abhalten, trotz Einladungen in Deutschland Vortraege zu dem Thema zu halten.
Aber der Reihe nach zu Deinen Aussagen:
1. Es ist eine historische Tatsache, dass bis zum Aufkommen der Reformbewegung die Juden orthod. waren.
Man muss nicht immer alle Mitzwot einhalten, um als orthod. zu gelten.
In der Historie, z.B., Mittelalter waren die Juden mehr als traditionell. Schon aufgrund ihrer gesellschaftlichen Ausgleiderung. Es blieb ihnen kaum etwas anderes ueblich.
2. Dass Avraham alle Mitzwot hielt, ist im Talmud, der Gemara, verankert und es werden dafuer eindeutige Beweise geliefert, die sich aus dem originalen Thoratext ergeben.
3. Vielleicht erwecke ich hier im Blog den Eindruck, dass Juden der Orthod. davonlaufen. Nun, einige tun das, aber aus anderen Gruenden. Sie laufen gewissen Gesellschaften davon, aber NICHT der Orthod. an sich.
Die absolute Mehrheit der Aussteiger der haredischen Gesellschaft, lebt weiterhin mehr oder weniger relig. !!!!!!!
Aussteigen bedeutet NICHT allem davonzulaufen.
4. Das Reformjudentum ist nicht schuld und das habe ich nie behauptet.
5. Zu den Sadduzaern und Karaiten: Ich glaube, dass Rabbi Saadia Gaon zu dem Thema genuegend schrieb und widerlegte.
Bis auf wenige Karaiten hat sich heute das Thema gaenzlich erledigt.
6. Wenn ich hier ueber Aussteiger und Aehnliches schreibe, dann ist das nicht misszuverstehen und auf Tausende von Menschen zu beziehen. Ich spreche hier Einzelschicksale an und keine Massen !!!
"Die Orthodoxie war eine Reaktion auf Emanzipation und Reform."
AntwortenLöschenhier gilt es etwas genauer zu sein.
allenfalls die NEO-orthodoxie war eine reaktion auf emanzipation und reform, ein versuch, die menschen im rahmen der mitzwot zu halten, aber ihnen dennoch die möglichkeiten, die sich durch die haskala auftaten, zu erschliessen. der schwerpunkt lag jedoch immer darauf, wie ermögliche ich es, die mitzwot trotzdem einzuhalten - also ein anderes konzept als das der reform, die das konzept des haltens der mitzwot veränderte.
ich würde den begriff "orthodoxie", der eine erfindung der reformbewegung ist, auf dasjenige judentum, welches sich nicht der reform zurechnete, nicht anwenden, sondern es als toratreues judentum bezeichnen.
karäer und sadduzäer sind widerum ein ganz anderes problem, sie standen schon lange ausserhalb des toratreuen judentums.
auch wenn juden immer wieder die mitzwot in der praxis nicht 100%ig eingehalten haben, so war jedoch bis zum aufkommen der reform es konsens, dass die mitzwot verbindlich sind, und ihre nicht-befolgung eben eine awera.
zu 1)
AntwortenLöschenIch glaube nicht, daß die Juden vor der Emanzipation sich als orthodox oder gar als religiös bezeichnet hätten. Und rechtgläubig sowieso nicht, wo doch nennenswert erst Rambam Glaubensprinzipien in das Judentum eingeführt hat, was nicht ohne Widerspruch geblieben ist. Du kannst nicht ernsthaft behaupten, daß früher alle Juden orthodox nach unserem heutigen Verständnis gelebt haben. Vor kurzem habe ich eine Buchnotiz gelesen, in der sich ein Rabbiner in Andalusien darüber beklagte, daß er zwei Zeugen ablehnen musste. Der eine war ein Betrüger und der andere hatte öffentlich den Schabbat entweiht. Sicher entsprach es den Umständen, daß früher die Mehrzahl der Juden ein eher traditionelles Leben führte, wobei traditionell vor der Emanzipation etwas anders ausgesehen haben dürfte als heute, wo Reform und säkulare Umwelt immer wieder Anlass bieten, die Zäune noch ein bißchen höher zu bauen.
zu 2)
Hat Abraham nicht seinen Gästen Fleisch und Milch angeboten? Leider habe ich aktuell keinen Chumasch mit Kommentar zur Hand, aber mit Sicherheit gibt es einen passenden Kommentator, der auch hier das Problem elegant umschifft. Ich kann mir sehr gut vorstellen, daß die Meinung, daß unsere Vorväter alle Mitzwot der Thora befolgt haben, unter den Charedim sehr populär ist (alles war schon immer so). Deshalb muß sie aber nicht richtig sein. Ich glaube, prominenter Vertreter dieser Ansicht ist Ramban. Rambam hätte das mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht unterschrieben. Die Geschichte, daß Jehuda mit einer Hure sexuellen Verkehr hatte, rechtfertigt er damit, daß vor Sinai Sex mit einer Hure nicht anders betrachtet wurde als Sex mit der Ehefrau nach Sinai. Es gibt also einen Unterschied zwischen vor Sinai und nach Sinai. Sein Sohn Abraham Ben Rambam, habe ich irgendwo gelesen aber ohne daß ich es überprüfen kann, weil ich kein Buch von ihm habe, nennt die Dinge wohl noch genauer beim Namen: Die Vorväter haben nicht alle Mitzwot der Thora befolgt. Abgesehen davon wirst du im Talmud wahrscheinlich Unterstützung für jede Meinung finden. Es ist immer nur eine Frage, wie lange du suchen möchtest.
zu 3 und 6)
Richtig, Aussteigen bedeutet nicht allem davonlaufen. Irgendwo muß man ja auch hinlaufen. Deine Aussage kann ich weder bestätigen noch widersprechen. Aber richtig, Einzelschicksale müssen keine Massen sein, aber wahrscheinlich gibt es wissenschaftliche Untersuchungen mit Zahlenmaterial.
Eine persönliche Note: Keine Angst, ich habe dich schon nicht mißverstanden.
B"H
AntwortenLöschen@Micha
1. Orthodox leben bedeutet nicht automatisch alle Mitzwot einzuhalten. Du verwechselst da etwas mit relig. und nichtrelig.
Orthodox bedeutet unter anderem, die Thora als von G - tt gegeben zu betrachten.
Den Begriff "orthodox" gab es vor der Reformbewegung nicht, genauso wie es ihn heute in Israel nicht gibt. Es gibt relig. oder sekulaer.
Danach wird in Haredi, Nationalrelig oder anderes entschieden.
2. Der Rambam hat lediglich schon bekannte Prinzipien zusammengefasst und nicht neu erschaffen.
Genauso steht es uebrigens mit der Mishna Thora !!!!
3. Avraham bot seinen Gaesten zuerst Milch und erst danach Fleisch an !!! Also gab es keinerlei Kaschrutproblem.
Die Meinung, dass die Vorvaeter die Mitzwot hielten, hat nichts mit den Vorlieben der Haredim zu tun. Vielmehr handelt es sich bei der Meinung um eine Gemara im Talmud Yoma 28b und die Meinung vertreten alle Rabbiner, die ich kenne. Und das sind eine ganze Menge.
4. Deine Behauptungen zum Rambam und Ramban kommentiere ich nicht, denn ich beschaeftige mich mit beiden sehr ausfuehrlich und kann Dein angelesenes Wissen nicht unterstreichen.
Um sich ueber solche Themen auszulassen, gehoert schon etwas mehr dazu als mal kurz zu blaettern.
Ich nehme professionellen Unterricht zum Rambam und kann bestaetigen, dass es nicht leicht ist. In ein paar Jahren bin ich vielleicht weiter.
5. Ich schreibe sehr viel im engl. Bereich ueber Aussteiger und chassidische Gruppen. Nicht nur auf meinem Blog, sondern fuer Gemeindenachrichten im chassidischen Boro Park.
Zum Thema "Aussteiger" gibt es kaum Zahlen, und wenn, dann keine verlaesslichen.
Ich bin in der chassidischen Welt mit meinen Berichten in einen unbekannten Bereich eingedrungen und kriege taeglich mehrere Mails. Sogar von einem haredischen Psychiater, der solche Problemfaelle behandelt.
Von den chassidischen Gruppen berichte ich Dinge, die niemand zuvor richtig herausfand. Keine Ahnung warum, aber ausser mir gibt es selten Material.
Die Wissenschaft versagt bei dem Thema, denn man muss schon selbst relig. sein, um Auskuenfte zu erhalten. Akademische Studien sind nichts, wenn ich Mails von Satmar bekomme.