Mittwoch, Dezember 05, 2007

Faszination "Gesellschaftsdruck"

B"H

Die soziologische Literatur macht sich zum Thema "Interne Gesellschaftsstrukturen der chassidischen Gruppen" rar. Jeder, der meint, etwas zu sagen zu haben, kennt die Chassidim nur aus anderweitiger Literatur oder hat einmal kurz mit ihnen gesprochen. Über die Chassidut Satmar gibt es sogar Bücher, in denen der Autor seinen Aufenthalt bei der chassidischen Gruppe beschrieb. Alles wunderbar, doch nicht das, was ich unbedingt suche. Interessante Studien bezüglich der internen chassidischen Gesellschaft gibt es bei einigen Psychologen der jüd. - amerik. Brandeis - University. Alles in allem aber bleiben soziologische Details eine Rarität.

Was macht die chassidische Gesellschaft aus und warum entschliessen sich Tausende Chassidim einem Rebben und einer bestimmten Ideologie zu folgen ?

Mit der Ideologie des Chassidismus habe ich keinerlei Probleme, denn ich selbst habe mich ihr angeschlossen. Aber unbedingt einem einzigen Rebben bzw. den Idealen einer einzigen chassidischen Gruppe zu folgen, liegt mir fern.

Die erste chassidische Gruppe, die mich massiv missionieren wollte, war, wie könnte es anders sein, Chabad (Lubawitsch). Nach einigen Stunden Unterricht bei Chabad fragte man mich natürlich, ob ich Mitglied werden wolle. Ich lehnte mehrere Male ab und man gab sich enttäuscht. Wie bei Chabad, lernte ich ebenso bei Breslov. Hier zwei Links zur Chassidut Breslov:

http://hamantaschen.blogspot.com/2007/02/chassidut-breslov-teil-1.html

http://hamantaschen.blogspot.com/2007/02/chassidut-breslov-teil-2.html,

Bei Breslov wollte mich jedoch keiner missionieren.
Einige Zeit verbrachte ich mehr oder weniger intensiv bei den extremen Satmarer Chassidim, aber dort beschränkte man sich darauf, mir klarzumachen, dass nur das haredische (ultra - orthod.) Leben das einzig Wahre sei.

Meine letzte intensive Missionsattacke bekam ich von der Chassidut Belz. Die Mission hält an, denn ich kenne einige Belzer, bin ihnen aber bisher immer elegant entwichen.
Nein, eine Gruppe ist nichts für mich und ein Leben nach den Regeln des Rebben ist undenkbar. Allerdings frage ich mich sehr intensiv, wie andere Menschen sich jenen Idealen anschliessen können. Zum einen sind dort die neu Hinzugekommenen, die andere Beweggründe haben als jene, welche in die Gruppe hineingeboren wurden.

Vor ein paar Monaten fragte ich einen Freund, der sich ebenso mit den Chassidim beschäftigt, warum die Chassidim ihrem Rebben folgen. Aus relig. Sichtweise heraus heißt es dazu, dass der Rebbe ein Zaddik (Gerechter) ist. Das Konzept des Zaddik ist im Chassidismus mehr als aktuell und besteht seit dem Baal Shem Tov. Richtig populär machte es jedoch erst der große Rabbiner, Rabbi Elimelech von Lejansk.

Der relig. Grund ist klar, aber wie kommen die Chassidim dazu, dem Rebben zu folgen ? Mein Freund gab den Denkanstoß, dass sich der Rebbe und seine Chassidim wie eine Symbiose verhalten. Sie brauchen ihn und er braucht sie. Ohne diese Tatsache gebe es schließlich die chassidische Gruppe nicht.

Aber ich möchte noch zwei weitere Beispiele für meine Theorien nennen.

In der Jerusalemer Fußgängerzone Ben Yehudah befindet sich ein Chabad - Center. Dort gibt es u.a. eine Suppenküche und Shiurim (Unterricht) werden auch angeboten. Einige junge Chabad - Chassidim leben in dem Center und um dies zu können, wird von ihnen erwartet, sich den Chabad - Regeln unterzuordnen. So gibt es für sie einen festen Stundenplan für den gesamten Tag. Wann wird aufgestanden, wann wird gebetet, wann gegessen und wann gelernt. Das Thema "Freizeit und Ausgehen" wird bei dem Zeitplan fast übersehen.

Zweites Beispiel ist die extreme chassidische Gruppe Toldot Aharon.

Soweit ich in Erfahrung bringen konnte, haben alle Mitglieder der Toldot Aharon jedes Jahr im Dezember eine Vollversammlung. Dann gibt der Rebbe, in dem Fall Rabbi David Kahn, einen Vortrag und verliest genauso seine neuen Erlässe für die Gruppenmitglieder.

Toldot Aharon ist einzigartig, denn ALLE Mitglieder müssen die hauseigenen Gesetzte - die TAKANOT - erfüllen. In den Takanot ist zum Beispiel geregelt, wie man sich anzieht, die Kinder erzieht und auch mit wem man sich anfreunden darf. Wer die Frauen der Toldot Aharon trifft, der wird schnell feststellen, dass keine einzige Frau sich mit Frauen aus anderen Gesellschaften anfreundet. Toldot Aharon - Frauen sind IMMER unter sich. Sie reden mit ihren Mitmenschen, doch anfreunden tun sie sich nicht. Noch nicht einmal mit den Frauen von Satmar, wo doch ausgerechnet Satmar die Gruppe Toldot Aharon finanziell unterstützt. Toldot Aharon - Frauen bleiben unter sich. Punkt.

Vor knapp einer Woche fand in der großen Synagoge der Toldot Aharon in Mea Shearim eine weitere Vollversammlung statt. ALLE gebürtigen Mitglieder unterschreiben bei der Gelegenheit erneut die Takanot. Wer nicht unterschreiben will, der gehört automatisch nicht mehr zur Gruppe. Soweit mir bekannt ist, müssen Neuzugänge in die Gruppe nicht immer die internen Takanot unterschreiben, denn irgendwie kann man nicht die Einhaltung aller Regeln von ihnen verlangen wie von einem Mitglied, welches von Geburt an mit dabei ist.
Hinter diese Aussage setzte ich jedoch ein Fragezeichen, denn ich weiß um deren 100%ige Richtigkeit nicht.

Wie kommen Menschen dazu, sich diversen Regeln des Rebben bzw. der Gruppe zu unterwerfen ?

Im Prinzip tun wir alle nichts anderes, denn jeder paßt sich bestimmten Gesellschaftsstrukturen an. Allerdings ist mir im Fall von Toldot Aharon unerklärlich, wie man sich bereit erklären kann, auf Freundschaften außerhalb der Gruppe zu verzichten ?
Selbst wer nicht mit externen Ideen oder Menschen konfrontiert werden möchte, kann dennoch Freundschaften nach außerhalb pflegen. Mit gleichwertigen Religiösen, versteht sich.

Offiziell heißt es dazu, dass diese Regel aus den Takanot deshalb erlassen wurde, weil der Rebbe ein Auseinanderfallen der Gruppe vermeiden will. Doch soweit ich die weiblichen Mitglieder der Toldot Aharon und ihrer Splittergruppe Avraham Yitzchak kennen lernte, geben sich zwar viele Frauen moderner als zuvor, aber es denkt niemand daran, ernsthaft zu rebellieren geschweige denn der Gruppe den Rücken zu kehren. Warum also all die Vorsichtsmaßnahmen ? Ist es eine Diktatur ?

Das Wort "Diktatur" scheint wenig angebracht, denn jedes Mitglied hat die Freiheit zu entscheiden, etwas zu unterschreiben oder nicht. Warum also unterschreiben sie ? Weil sie es nicht anders kennen und halt so aufgewachsen sind ?
Hineingeboren zu sein heißt, seine Heimat zu haben. Und will man überhaupt auf die Takanot verzichten, denn schließlich sind diese ja der Inhalt der Toldot Aharon ?

Eine nichtrelig. Freudin sagte mir einmal, dass all diese Leute anscheinend nicht in der Lage sind, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen und sich deswegen einen Rebben suchen, der ihnen alles vorbestimmt. Dies Ansicht mag in vielen Fällen der Wahrheit entsprechen, doch wenn, dann eher bei den Neureligiösen.

Bei unserem letzten chassidischen Tisch am vergangenen Shabbat konnten eine andere Freundin und ich uns wieder von einem besonderen Verhalten der Frauen der Toldot Aharon sowie der Avraham Yitzchak - Gruppe überzeugen. Hier wird so richtig das alte vielleicht immer noch allzu aktuelle Vorurteil bestätigt: Frauen lieben Schmuck und sobald sie ihn haben, sind sie hin und weg.

Findet bei den beiden chassidischen Gruppen eine Hochzeit statt, dann ist die junge Braut absolut glücklich, wenn sie Dreierlei vom Bräutigam bekommt: eine neue Armbanduhr (vorzugsweise in Silber oder kupferfarben), neue glänzende Ohrringe sowie mindestens zwei glänzende Ringe. Aber nicht immer bedarf es einer Hochzeit; auch junge Teenie - Mädchen zeigen sich gerne gegenseitig ihre neuesten Schmuckerrungenschaften.

Gesellschaftszwang, Rebbes, Takanot…
Die chassidische Gesellschaft wird weiterbestehen und kaum ein Gruppenmitglied wird rebellieren. Sollte jemand nicht in diese Gesellschaftsform passen, dann kann er sich von ihr entfernen. Nicht immer ist das so einfach bzw. machbar, das gebe ich zu.

Aber vielleicht sehen die Mitglieder selbst die Takanot als keinen besonders gravierenden Eingriff in ihr Leben und falls ja, dann kann man ganz langsam und vorsichtig einen Umbruch von innen heraus wagen. Dazu bedarf es viel Zeit und Geduld und vor allem guter Freunde und viel Unterstützung innerhalb der Gruppe.
Seit geraumer Zeit schon versuchen die Frauen der Toldot Aharon einen Musikunterricht an ihren Schulen genehmigt zu bekommen. Bisher ohne Erfolg, doch ist es schon eine gewaltige Errungenschaft, dass sich überhaupt Frauen zusammentun, um diesen Vorschlag zu unterbreiten.

Vielleicht ist das interne Leben nach den Takanot oder anderen Regeln gar nicht so lebenseingreifend wie wir von außen denken.
Jedenfalls bleibt es ein faszinierendes Thema.

4 Kommentare:

  1. Anonym9:25 AM

    "Das Thema "Freizeit und Ausgehen" wird bei dem Zeitplan fast übersehen."

    hi miriam,

    "freizeit" und "ausgehen" sind in der haredischen welt fremde begriffe. wozu ausgehen? um goyim-naches zu lernen oder zu machen?
    wer freie minuten hat, verwendet diese zum lernen.
    hier in deutschland haben die chabadnikim übrigens auch keine "freizeit", sie gehen nicht aus, sie arbeiten rund um die uhr. und dies nicht nur, weil das arbeitspensum so hoch ist, sondern, weil dies zur lebensweise gehört.
    bei den litvischen ist es im übrigen ebenso - ganz ohne "rebben" und takanot. sie lernen, wenn sie "frei" haben, und die yeshiva-studenten bei lauder besuchen allenfalls ihre eltern in ihrer freizeit. aber kino, kneipen, nachleben? das passt nicht!
    das lebenskonzept ist eben ein ganz anderes als das der säkularen gesellschaft.

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  2. B"H

    Hi Schoschana,

    mit dem "Ausgehen" meinte ich nicht High Life machen oder so.

    Aber jeder braucht doch auch einmal Zeit fuer sich. Das ist doch ganz natuerlich.

    So wie ich den Chabad - Stundenplan in der Ben Yehudah sah und mit einem Chabadnik von dort sprach, bekommen sie keine einzige Minute frei fuer sich.

    Von Breslov kenne ich etwas anderes und andere chassidische Gruppen wie Gur, Belz oder sogar Satmar haben neben dem Studium Zeit.

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  3. Anonym2:42 PM

    ja, es stimmt, sie bekommen keine freizeit. das kenne ich auch so. es wird einfach kein sinn darin gesehen sich "mit sich selbst" zu beschäftigen, "allein zu sein" etc.
    das ist, wie gesagt, nicht das lebenskonzept. ich denke, das traditionelle judentum sieht dies kaum vor. natürlich leben heute auch traditionelle juden (kipa sruga u.a.) anders, aber in der essenz ist es so, dass der sinn im torastudium, kindererziehung, lernen (nicht allein, sondern mit lehrer) etc. gesehen wird, und nicht in (müssiger ;)) selbstreflexion...
    ich denke, chabad mutiert vielleicht mehr und mehr zum "workaholic" in sachen judentum, so eine art "berufsjudentum".
    es stimmt, manche chassidischen gruppen haben zeit für sich, aber auch diese zeit ist der anknüpfung an hashem gewidmet, also auch nicht nur so "für sich".

    gut schabbes, schoschana

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  4. B"H

    Eine Grossteil meines Tages besteht auch aus der Religion und dem Lernen, aber ab und zu braucht man auch einmal etwas anderes.

    Im Fall Chabad in der Ben Yehudah sieht mir das gerade so aus als ob die "alten" Chabadnikkim verhindern wollen, dass die "neuen" mit anderen jued. Ideen in Kontakt kommen, bevor sie nicht total von der Chabad - Ideologie absorboert sind.

    Ich sprach gerade mit Freunden darueber und erzaehlte, wie sauer ein Chabad - Rabbiner war als ich zu Satmar ging.

    Bei Toldot Aharon ist es wieder etwas anderes, denn fast alle leben zusammen in einem Hinterhof oder in Beit Shemesh. Die Takanot untersagen ein Leben nach aussen, um die Gruppe zusammenzuhalten.

    Die einzigen, die Freiheiten geniessen, sind die Nationalrelig. und die litvishen Haredim, denn dort ist kein Rebbe und keine permanente Gesellschaft, die ihnen auf die Fuesse tritt.:-)

    Fuer mich waere diese enge Verbundenheit nichts. Andererseits kenne ich Belzer, Breslover oder israel. Satmar, die sich ihre gewissen Freiheiten nehmen.

    Chabad ist wieder ein anderes Thema und bildet immer eine Ausnahme.:-)))

    Shabbat Shalom

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