Dienstag, November 04, 2008

Und was hat es jetzt mit Tel Aviv auf sich ?


B"H

Jedes Land hat seinen eigenen ganz speziellen Zufluchtsort. Eine Stadt, in die man gerne flüchtet, wenn einem die Provinz auf den Geist geht oder wo man einfach nur ein neues Leben aufbauen will. Aus welchen Gründen auch immer.

In Israel ist gerade Tel Aviv dieser beliebte Zufluchtsort. Die Stadt trägt den Zusatznamen "die Stadt die niemals schläft" und darüber hinaus hat Tel Aviv die meisten Arbeitsplätze zu bieten. Jobs, höhere Gehälter als anderswo im Land und eine gute Lebensqualität. Dem gegenüber stehen leider die immensen Lebenshaltungskost. Aber man kann halt nicht alles haben im Leben. Sobald man etwas Lebensqualität plant, ist das Gehalt auch schon futsch.

Tel Aviv ist größtenteils die Stadt der Säkuleren obwohl es ebenso religiöse Juden gibt. Und wer so richtig etwas Religiöses will, mit Haredim und allem, der fahre hinüber in die Nachbarstadt Bnei Brak. Und da ich schon vom "Entkommen" sprach, viele Haredim (Ultra - Orthodoxe) verspüren nicht wenige Male den Drang, entkommen zu müssen. Nur einige Zeit weg von der eigenen alles beobachtenden Gesellschaft und ihrem Druck. Ein Haredi aus Jerusalem, Kiryat Sefer oder Beitar steht konstant unter gesellschaftlicher Observierung. Natürlich kann man heimgehen, die Tür zumachen und niemand kann einen dann mehr sehen und durchleuchten. Aber es geht nicht nur darum, nicht "observiert" zu werden, sondern es geht vielmehr um den Drang nach persönlicher Freiheit.

Zahlreiche Haredim, insbesondere Männer, sagen mir, dass sie gerne einfach für ein oder zwei Tage nach Tel Aviv entkommen möchten. Einfach nur so wegfahren und das Leben geniessen. Frei zu sein in einer Stadt, wo niemand einen beobachtet und man einfach "ich selbst" sein darf. Wenigstens für ein paar Stunden.
Diese Art der Flucht hat nichts zu tun mit der Flucht vor der Religion oder G - tt. In den meisten Fällen bedeutet es keinesfalls, dass man sich in ein wildes Leben stürzt und jetzt sämtlichen halachischen Regeln bricht. Vielmehr bedeutet die Flucht die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, ohne sich dafür permanent rechtfertigen zu müssen. Außerdem ist es immer gut, woanders hinzufahren, etwas anderes zu sehen und Abstand zu gewinnen.

Dennoch gibt es aber auch solche Haredim aus Jerusalem oder Bnei Brak, die einmal wöchentlich nach Tel Aviv kommen und in einer Bar die Sau rauslassen. Meist in einer Bar mit ausschließlich gleichgesinnten, nämlich anderen Haredim mit derselben Veranlagung. Manche von ihnen ziehen sich sogar "zivile" säkulere Kleidung an, um ihr Tun zu tarnen. Religiöses Leben kann extrem intensiv sein und irgendwann kriegt man das Gefühl, im Leben etwas zu vermissen. Manchmal sogar nur die Natur oder einfach andere Leute sehen.
All diese Gefühle sind mir bestens bekannt, da ich aus Erfahrung weiß, dass ich in Tel Aviv so sein kann, wie ich will. Theoretisch könnte ich das auch in Jerusalem, doch wird man da konstant angestarrt. Wer nicht mit einem Jerusalemer Kopf denkt, der befördert sich leicht ins Abseits. Und das nicht nur auf die Religiösen bezogen, sondern auf alle Teile der Gesellschaft.

Es gibt Zeiten, wenn mir die Religiösen total auf die Nerven gehen. Besonders dann, wenn es sich um jene handelt, die da meinen so relig. zu sein und das genaue Gegenteil der Fall ist. Dabei sehen sie noch nicht einmal selbst, dass sie nicht so heilig sind, wie sie sich geben. Genau das macht mich jedesmal krank.
Religiöse Institutionen, in denen man ein bestimmtes Verhalten an den Tag legen muß, damit man nicht gefeuert wird. Nicht wegen Fehlverhaltens, sondern lediglich deswegen, weil man eben einmal nicht in allen Lebenslagen mit jemand anderem übereinstimmt.
Vielleicht ist es gemein, aber in Tel Aviv stelle ich mir jedesmal vor, wie wohl diese "Neve Yerushalaim" oder überhaupt Jerusalemer Seminary girls die Tel Aviv Gesellschaft meistern täten. Wie würden sie wohl einen Job suchen oder mit der Umwelt auskommen ? Wer sich gerade in dieser Stadt nicht kompromißbereit zeigt, der ist fehl am Platze. Aber besagte Leute bleiben da lieber in ihrer kleinen stupiden relig. Umgebung, wo sie so richtig ihre Macht ausleben können.

Während meiner vergangenen letzten Wochen in Jerusalem merkte ich erst so richtig, wohin ich gehöre. Nicht nur wegen meiner persönlichen Freiheit wegen; manchmal sind es nur kleine Veränderungen im Leben, die man so sehr braucht. Neue Freunde und eine andere Umgebung. Und wenn mich einmal das Heimweh nach ich Jerusalem plagen sollte, brauche ich mich eh nur in den Bus zu setzten und 50 km weit zu fahren.

Ich erzählte mein Vorhaben einigen Haredim und die packte unverzüglich der Neid: "So gerne würde ich nur einmal irgendwohin fahren, wo ich ich selbst sein kann".
Ich denke, dass ein einziger Tag des Entspannens einen wichtigen Faktor im relig. Leben darstellt. Nach diesem Tag ist man zumindest viel relaxter oder kehrt mit neuem Elan in die Gesellschaft zurück. Selbst wenn derjenige meint, dort gar nicht hinzugehören und nur so tut als sei er Haredi.

Aber ist immer zurückstecken besser als zu leben ?

4 Kommentare:

  1. Anonym10:06 AM

    "Wer nicht mit einem Jerusalemer Kopf denkt, der befördert sich leicht ins Abseits. Und das nicht nur auf die Religiösen bezogen, sondern auf alle Teile der Gesellschaft"

    ich habe das gefühl, viele wollen das gleiche, nur keiner traut sich es zu sagen, geschweige denn zu tun.
    die soziale kontrolle ist immens. was zu stark ist, führt irgendwann ins gegenteil. ich kann das argument, in der haredischen gesellschaft leben zu wollen, gut verstehen, denn ausserhalb von ihr gibt es oft zu wenig tora. aber das leben mit tora ist dann vielfach so hart erkauft... ich war neulich in ramot eshkol (sche' mitchared), wo inzwischen die amerikanischen chorsei b'tshuva die mehrheit stellen dürften. dort einen platz im cheder zu bekommen für die kids ist schwerstarbeit, ohne beziehungen geht gar nichts und die bekommt man nur, wenn man sich entsprechend angepasst verhält. die frage ist nur, wohin diese anpassung jemanden bringen kann - nicht immer ist das gesund. ich bin auch gespannt, ob nicht die kinder eines tages fragen werden "tati, warum durftest du abitur machen und ich nicht?".
    ich habe viele haredim (nur männer natürlich) in diversen bookshops in der innenstadt und im clal building ihre nasen in die trivialliteratur stecken sehen. eine kleine, kostengünstigere möglichkeit, zu entspannen...

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  2. B"H

    @Shoshana

    Da hast Du die Situation richtig erkannt.

    Alles ist halt eine Frage des Rufes und wenn Du keinen guten Ruf hast, dann schaut es mit Schulplatz, Yeshiva und vor allem dem Schidduch ziemlich mies aus. Deswegen wird nach aussen hin immer auf "heile Welt" gemacht, damit auch ja keine Zweifel oder etwas Negatives durchdringen.

    Ich kenne einen Chassid aus Beitar und der bezeichnet seine Stadt als "Taliban City". Ab und zu faehrt er nach Tel Aviv und liest dort weltliche Zeitungen und sowas.

    Bei den Maennern wird derleit Verhalten, mit mal in die Zeitung schauen und so, eher geduldet als bei den haredischen Frauen. Was jecoh nicht heisst, das die Frauen es nicht tun.:-)

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  3. Anonym1:27 AM

    ich finde den gedanken sehr seltsam extra in eine andere stadt zu fahren um weltliche literatur zu lesen.

    eine sache die ich auch nicht verstehe ist warum glaubt ihr dass zur zeit so viele das bedürftnis haben fromm zu werden oder sich so zu bezeichnen oder so gesehen zu werden?

    Liegt es vielleicth an dem generationen wechsel der stattfindet? wo wir merken dass unsere eltern oder großeltern die oftmals die familien und die tradition aufrecht erhalten haben nicht mehr bei uns sind?

    ich weis ncith ob ich das richtig verstanden habe aber manchmal klingt es so als würden viele in kauf nehmen davor die eigene vergangenheit und sogar freunde dafür zu vergessen.

    Gut, Miriam, du sagst immer das es wichtig ist zu kategorien zu haben. das ist ok. Aber kann ein sekulärer Jude nicth einfach sekulär bleiben aber beginnen die Mitzwes einzuhalten und dannach schaun was passiert? und was sich ändert? Das sind so punkte wo ich ncith richtig durchblicke.

    jakobo

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  4. B"H

    Hi Jakob,

    ich taete es nicht unbedingt "in eine andere Stadt fahren, um dort weltliche Literatur zu lesen" nennen.

    Es ist sehr schwierig, diese Angelegenheit einem Aussenseiter zu erklaeren. Hm, wenn jemand in dieser geschlossenen haredischen Gesellschaft lebt, heisst, in einer der speziellen Wohngegenden oder eigens eingerichteten Staedte wie Kiryat Sefer bei Modi'in oder Beitar (in Gush Etzion / nicht weit von Jerusalem), dann muss sich derjenige an gewisse Spielregeln halten. Zum Beispiel muss er seine Kinder anstaendig angezogen zur Schule schicken, selbst immer anstaendig sein, sich in gewissen Masse verhalten und nicht anecken. Tut er das, muss er halt mit einer Ausgrenzung rechnen. Viele wollen das nicht und geben den Spielregeln nach, fahren aber gerne woanders hin (z.B. Tel Aviv etc.) und trauen sich dort ganz andere Dinge. Zum Beispiel auch einmal oeffentlich in einer weltlichen Zeitung blaettern und nicht nur in der haredischen.

    Ich selbst lebte einmal in einem Jerusalemer Stadtteil, wo es keine weltliche Zeitung zu kaufen gab. Manchmal bin ich echt fast ausgerastet und habe dann die Zeitung halt in der Innenstadt besorgt.

    Jedoch ist diese ganze Angelegenheit einen ganzen Artikel wert und selbst dann ist sie noch schwer zu begreifen. Ihr koennt ja alle einmal fuer eine Woche nach Beitar ziehen.:-)))))
    Beitar ist eine relativ neu errichtete haredische Stadt mit mittlerweile 45.000 Einwohnern. Wer dort immer wieder "Anstandsprobleme" macht, sind die Neureligioesen (Baalei Teshuva". Darueber gibt es viele Beschwerden.

    Die Welle der Neurelig. (Baalei Teshuva) haelt schon jahrelang an und ist keineswegs neu.
    Ich denke einfach, dass viele Menschen ein Leben mit mehr Sinn suchen. Andere gehen zu Kursen und sehen dann ploetzlich das Licht oder so. Die Gruende sind ganz unterschiedlich und es gibt keine genauen Erklaerungen. Aber sicher spielt das "zurueck zur Tradition" dabei auch eine Rolle.

    Neurelig. haben unterschiedliche Mentalitaeten und bei manchen ist es tatsaechlich so, dass sie ihre alte Umgebung / Freundeskreis vollkommen aufgeben. Manchmal logisch, denn sie wollen akzeptiert werden und ihre alten Freunde koennten sie theoretisch zu "Suenden" verleiten. Kurz gesagt, man sieht seine neue Religioesitaet als einen neuen Lebensabschnitt und da will man den alten ablegen. Nicht unbedingt vergessen, doch zumindest ablegen und sich Neuem zuwenden.
    Allerdings gibgt es auch jene, die ihre alten Freunde im wahrsten Sinne des Wortes rausschmeissen. Das kommt imemr ganz auf die individuelle Persoenlichkeit an.

    Nur ein Ignorant wuerde erwarten, dass ein Neurelig. ab sofort ALLE Mitzwot einhaelt. Religioes zu werden ist ein langwieriger Prozess und das geht nicht von heute auf morgen. Wer dies versuchen sollte, der rastet nach ein paar Wochen aus und rennt der Religion auf und davon.

    Relig. zu werden kann Jahre dauern und man sucht sich halt ein paar Mitzwot oder auch nur eine, mit der man beginnt. Und allmaehlich tut man mehr. Wer dies oder das nicht tut, der ist halt noch nicht auf einem gewissen Level. Man sollte jedoch nie sagen, dies oder das wuerde ich nie tun. Eher sollte man moderat bleien und halt sagen, dass man noch nicht auf diesem oder jenem Level angekommen ist.

    Noch nicht einmal ein Haredi wird all das uebel nehmen. Eher im Gegenteil.
    Am vergangenen Schabbat, bei meinem Gespraech mit der Rebbitzen der Toldot Aharon (ich wusste erst nicht, dass es die Rebbitzen war) erzaehlte ich ihr auch, dass ich jetzt nicht superrelig. durchs Leben eile. Reisst einem deswegen jemand den Kopf ab ? Nein.
    Eher ist es die Gesellschaft der Baalei Teshuva selber, die sich da hineinstresst und einer meint, dem anderen sagen zu muessen, dass er jetzt so furchtbar toll relig. ist.

    Ich werde noch mehr zu dem Thema berichten, nur bin ich gerade auf dem Absprung nach Tel Aviv.:-)))) Und dort haben wir tolles Wetter bei 27 Grad !

    Miriam

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