Dienstag, Juli 15, 2008

Talmud ? Was ist das eigentlich ?

B"H

Immer wieder nenne ich Quellen aus dem Talmud. Was aber ist das eigentlich, der Talmud ?
Für Juden handelt es sich meistens um ein riesiges dickes Gesetzbuch. Kompliziert und nur nach längerem Studium einigermassen verständlich. Nichtjuden dagegen betrachten den Talmud vielerseits als irgendein mystisches Werk. Mystisch oder auch hetzend gegen die nichtjüdische Welt. Im Internet gibt es genügend aus dem Zusammenhang herausgerissene Talmudzitate, die falsche Inhalte wiedergeben und wiedergeben sollen. Jedenfalls nach Meinung der nichtjüdischen Verfasser, deren Absicht darin besteht, die Glaubwürdigkeit des Talmuds in den Schmutz zu ziehen.

Einfach zu verstehen ist der Talmud in der Tat nicht. Ein professionelles Studium wird benötigt und niemand sollte sich allein daran begeben und wahllos zitieren. Zu sehr wird fehlinterpretiert, denn man kennt die Metaphern nicht; ganz zu schweigen von den notwendigen Kommentaren und Kommentatoren. Hinzu kommt, dass die meisten Übersetzungen in andere Sprachen (außer der englischen Steinsaltz - Edition) oftmals katastrophal sind. Die Mischna des Talmuds ist in der hebräischen Sprache und die nachfolgende Gemara fast ausschließlich im Aramäischen verfasst. Besondere Wortspiele innerhalb der Gemara, welche sich an der hebräischen sowie der aramäischen Sprache orientieren, gehen in Übersetzungen gänzlich verloren. Das bekannteste Wortspiel dieser Art dürfte wohl jenes auf der ersten Seite (2a) im Talmud Avodah Zarah (Götzendienst) sein. Ohne das talmudische Original vor sich zu haben, geht dann nichts mehr.

Zum Talmud gibt es unzählige professionelle Lektüre und ich möchte an in diesem Artikel einige hervorragende Erklärungen des Chabad - Rabbiners Adin Steinsaltz (aus Jerusalem) zitieren. Sein Buch, das auch in englischer Sprache erschien, heißt: "The Essential Talmud".

Zuerst einmal muß etwas ganz Grundsätzliches verstanden werden. Der Talmud ist nicht irgendein komischer Zusatz zur Thora, sondern vielmehr ist es unmöglich, die Thora ohne den Talmud zu verstehen bzw. die Thoragesetze (Mitzwot) einzuhalten bzw. auszuführen. Zusammen mit der Thora ist der Talmud der Grundstein des Judentums. Der Talmud ist damit ein "Guide - Gebrauchsanleitung" zum praktischen Judentum.

Kaum eine weitere jüdische Schrift löste im Verlauf der jüdischen Geschichte soviele Kontroversen und soviel Blutvergiessen aus. Und das aufgrund von Fehlinterpretationen und Mißdeutungen. Die Kirche haßt den Talmud und im Laufe der Geschichte, insbesondere im Mittelalter, kam es zu unzähligen öffentlichen Talmudverbrennungen. Zu anderen Zeiten war das Talmudstudium den Juden ganz verboten, denn dann, so hoffte man, würden die Juden ihre Religion vergessen und, z.B., zum Christentum konvertieren.

Die formale Definition des Talmuds ist "eine Zusammenfassung der mündlichen Gesetze", welche im Laufe der Jahrhunderte von Gelehrten in Israel (Palästina) und im Babylon vor fast 2000 Jahren zusammengetragen wurden. Grundsätzlich besteht der Talmud aus zwei Einheiten: der Mischna und der Gemara. Beide zusammen bilden den Talmud. Wie schon zuvor erwähnt ist die Mischna in hebräischer Sprache verfasst und bei ihr handelt es sich ausschließlich um Gesetze. Die darauffolgende Gemara ist auf aramäisch und es handelt sich hierbei um die rabbinische Auslegung der Mischna - Gesetze.

Diese Art der Erklärung ist jedoch vielmals zu oberflächlich, denn bei dem Talmud handelt es sich um mehr. Er ist eine Zusammenfassung der jüdischen Weisheit von mehreren Tausend Jahren. Er besteht aus einer Mischung von Gesetzen, Legenden und Philosophie verpackt mit einer einzigartigen Logik und einem außergewöhnlichem Pragmatismus; weitere Inhalte sind Geschichte, Wissenschaft, Anekdoten und sogar Humor. Der Talmud ist eine Sammlung von Paradoxen: ein geordneter und logischer Rahmen und jedes Wort ist sorgfältig gewählt und zu interpretieren.
Wer in den rabbinischen Diskussionen eine absolute Antwort sucht, der wird enttäuscht. Über 90 % der angebotenen halachischen Lösungen sind "Machloket – offen zu unterschiedlichen Interpretationen und Streitpunkten". Der berühmteste talmudische Disput ist jener der zwei Häuser Hillel und Shammai, welcher sich über ein ganzes Jahrhundert hinwegzog. Am Ende einigte man sich auf folgenden Kompromiß: "Beide, Hillel und Shammai, sprechen G – ttes Wort". Allein die Tatsache, dass eine Methode der anderen vorgezogen wird (heutzutage sind die Entscheidungen Hillels bindender als die des Shammai (1)) sei noch lange kein Grund zu sagen, die zweite Methode besitze keine halachische Gültigkeit.

Der Talmud setzt sich aus vielen unterschiedlichen Traktaten zusammen und ist keineswegs das Werk eines einzelnen Autoren. Die Autoren stammen aus vielen Jahrhunderten und jeder fügte neue Einblicke hinzu. Andere Probleme und der Austausch unterschiedlicher Ansichten im Wandel der Geschichte und jeglicher Umstände. Von daher gibt es keinen klaren Trend oder eine spezifische Objektive. Jede Debatte in der Gemara ist einzigartig und jedes Thema wird aus dem Blickwinkel der jeweiligen Zeitepoche beleuchtet. Der gesamte Talmud ist ein Hin und Her von Fragen und Antworten. Eine antike Methode des Talmudstudiums war es, die Antworten so zu durchleuchten, dass man auf die Fragen kommt, welche nicht immer klar aus dem eigentlichen Inhalt hervorgehen. Nachdem ein Basisverstehen erreicht worden ist, sollte der Talmudstudent in der Lage sein, sich selber sowie anderen Fragen zu stellen und Zweifel anzumelden. Der Talmud ist kein Werk, bei dem man zu allem JA und AMEN sagen soll. Nein, der Talmud verlangt und erlaubt Zweifel. Wahre Antworten erhält der Fragende nur aufgrund von spiritueller Kommunikation, sprich der intellektuellen und emotionalen Debatte .

Über mehrere Generationen hinweg, insbesondere in den Tagen der "Richter" sowie der Zeit des Ersten Tempels (ca. 950 – 586 vor Beginn der Zeitrechnung) wurden die Gesetze nicht immer so eingehalten wie verlangt. Doch niemals war die Nichteinhaltung vollkommen überspannt und gewöhnlich riefen die Propheten die Juden irgendwann wieder zur Umkehr auf. Jüdische Gelehrte waren frühzeitig gezwungen zuzugeben, dass gewissen Bezeichnungen aus dem Talmud (z.B. für Tiere oder Pflanzen) schon zu ihrer Zeit unbekannt waren und man diese Tiere nicht mehr identifizieren konnte. Außerdem mußten viele andere Wörter und Konzepte aus der Thora erst gedeutet werden. So zum Beispiel die "Totafot" – das Wort aus dem biblischen Inhalt des Schema Israel – Gebetes, woraus man die Tefillin (Gebetsriemen am Kopf und der Hand) ableitet. Im Laufe der Geschichte veränderten sich Werte und Bräuche und somit kamen neue ungeahnte Probleme auf. Rabbi Adin Steinsaltz führt an dieser Stelle den Schabbat als Beispiel auf. In der Thora heißt es, dass man sechs Tage lang arbeiten und am siebten Tage ruhen solle. Jedoch hat jede neue Generation ein anderes Verständnis davon, was es bedeutet zu ruhen und nicht zu arbeiten. Wofür steht die "Arbeit" in jeder neuen Generation ? Solche zeitgenössischen Problemstellungen verlangten nach Definition. Andererseits können viele Thorastellen insgesamt erst durch die Interpretation des Talmud verstanden werden. Bekanntes Beispiel hierfür sind die Tieropferungen (Korbanot). Oder wenn die Thora festlegt, dass eine Ehescheidung einer Urkunde des Mannes bedarf; wie soll dann diese Urkunde (Get) genau ausschauen ? All dies erklärt uns der Talmud.

Mit jeder Generation wächst der Bedarf nach Interpretation. Die Israeliten in der Wüste kannten noch sämtliche Thorainterpretationen ohne groß nachdenken zu müssen. Wenig später lernten die Jungen von den Älteren, und im Verlauf der Geschichte kam immer mehr das Thema "Thorabildung" auf. Die Thora sollte also studiert werden.
Die "Ansche'i Knesset HaGedolah – Men of the Great Assembly", sammelten Heilige Schriften und entschieden, welche davon in das Buch der Propheten kamen. Sie gaben der Thora ihren Stil, indem sie die Verse unterteilten, sowie wie wir sie heute a la Thoralesung vom Schabbat kennen. Was wird an welchem Schabbat gelesen ? Welche Parasha und von wo bis wo ? Weiterhin wurde von ihnen die jüdische Synagogenliturgie bestimmt – unter anderem das "Schemonah Esrei (Amidah) – Gebet".

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(1) Shammai:

Es gibt Kommentare, aus denen hervorgeht, dass in der Zeit nach der Ankunft des Meschiach (Messias) nur noch die halachischen Interpretationen des Shammai gelten werden.

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Und wie schaut eigentlich das Talmudstudium in einer Yeshiva (relig. Schule aus ?

Auszüge aus dem Buch "The World of Yeshiva" von William B. Helmreich.

In einer Yeshiva soll der Intellekt eines jeden entwickelt werden, was anhand des Talmudstudiums geschieht. Das Basiselement einer Yeshiva ist die Erfüllung der Mitzwah (für Männer) des Thorastudiums.

Der Talmud selber basiert ausschließlich auf der Thora und jeder, der mit dem Talmudstudium beginnt, sollte eine Ahnung von der Thora haben. Darüber hinaus sollte der Talmudstudent (Studentin) mit den Regeln der Logik sowie den Studienmethoden vertraut sein. Gleich voll und ganz einzusteigen ohne jegliche Ahnung zu haben ist wie wenn jemand versucht zu laufen, bevor er das Krabbeln erlernt.

Ich selber lernte das Talmudstudium einige Jahre professionell (auf einer Jerusalemer Yeshiva) und kann sagen, dass die Vorbereitung auf das eigentliche Studium schon sehr langwierig und ausgiebig sein kann. Insbesondere der Fachwörterschatz, den man sich aneigenen muß. Hinzu kommen Basiskenntnisse im Aramäischen sowie die Bedeutung der Satzstellungen in der Gemara (rabbinische Diskussionen). Zum Beispiel sieht man anhand der Worte des Satzbeginn oftmals die innere Bedeutung: Um was handelt es sich hier ? Ist es eine Frage ? Eine Frage, die auf andere Zitate zurückgeht ? Ist es ein Statement ? Wenn ja, worauf basiert es ? Gibt es interne Talmudvergleiche zu anderen Versen ?
Schon allein diese Art zu denken erfordert eine gewisse Zeit, aber irgendwann geht alles wie von allein und man fühlt sich sicherer.

Ziel des unterrichtenden Rabbiners sollte es sein, den Talmudschüler zu neuen Ideen zu ermutigen. Der Talmud selber besteht aus unterschiedlichen Leveln. Der Anfänger sollte lernen, um welchen Disput es in der Gemara geht. Was ist hier der Streitpunkt und worum geht es ?

Der Fortgeschrittene sollte auf vielen Gebieten des Judentums bewandert sein, denn der Talmud ist kein systematischer Gesetzescode, sondern eine Reihe von unabhängigen Regeln und Fallbeispielen. Daher sollte der fortgeschrittene Student mit ähnlichen Fallbeispielen aus dem Talmud vertraut sein, was ihm bei der Argumentation zugute kommt. Bei jeder Diskussion in der Yeshiva müssen Argumente gebracht und Verse zitiert werden. Wo gibt es ähnliche halachische Entscheidungen und was war der Ausschlag dafür ?

Den eigenen Fortschritt beim Studium erkennt man an der wachsenden Fähigkeit zur Argumentation. Um zu diesem Ziel erst einmal zu gelangen, geht jeder durch viele Frustphasen, denn glaubt man ein hieb – und stichfestes Argument gefunden zu haben und dann kommt ein anderer daher und zerstört es mit einem Gegenargument und dann ist das individuelle innere Gejammer oft groß. Enttäuschung macht sich breit, aber gleichzeitig bringt die Situation neue Anregung zum Weitermachen.

Was leider in den Yeshivot nicht angesprochen, geschweige denn diskutiert wird, ist die Zeitepoche aus der die talmudische Quelle stammt. Weder die Historie, Kultur noch die äußeren Lebensumstände kommen zur Sprache, sondern einzig und allein der Text und die jeweilige Diskussion auf dem Papier. Viele, mich selbst eingeschlossen, kritisieren die Yeshivot für diese Art der Lernmethode. Doch Letztere argumentieren, dass sie den Talmud nicht aus griechischen Augen betrachtet haben wollen, denn dies täte sich negativ auf das innere Gefühl auswirken, dass es sich hier schließlich um g – ttliche Gesetze handelt.

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