B"H
Beginnend diesem Samstag abend (sofort nach Schabbatausklang) bis hin zum Sonntag abend steht dem Judentum der traurigste Tag des Jahres bevor: der Tisha Be' Av – der 9. des jüdischen Monat Av. An jenem Tag wurden sowohl der Erste als auch später der Zweite Temple zerstört. Juden auf der ganzen Welt sehen diesen Tag als eine einzige Tragödie an, denn der Tag repräsentiert die schlimmsten historischen Ereignisse des Judentums überhaupt. Daher ist dieser Tag, wie Yom Kippur, ein 25 – stündiger Fastentag und es gelten fast die gleichen Halachot (Gesetze) wie am Yom Kippur. Allerdings mit einigen Ausnahmen.
Der Tisha Be' Av und das damit verbundene Fasten beginnen am Samstag abend (nach Schabbatausklang) und endet am Sonntag abend nach Einbruch der Dunkelheit. Für die genauen Zeiten möge sich bitte jeder an seine Gemeinde wenden bzw. in israel. Tageszeitungen nachschauen. Da bei den Tempelzerstörungen unzählige Juden umkamen, besteht für uns die Halacha, dass wir unsere Freude reduzieren, sobald der Tisha Be' Av beginnt (Kitzur Shulchan Aruch – Hilchot Tisha Be' Av). Vor dem Beginn des Fastentages müssen wir bei einem sogenannten Se'udat Mafseket ausreichend essen und vor allem trinken. Dies betrifft insbesondere uns Israelis, denn es werden für den Dienstag ueber 30 Grad vorausgesagt. Wenn möglich, sollte man bei dieser letzten Mahlzeit keine salzigen Speisen zu sich nehmen. Kartoffeln, Gemüse und Obst sind immer gut. Mein persönlicher Tipp ist Wassermelone. Da der Tisha Be'Av in diesem Jahr auf einen Mozzaei Schabbat fällt, verschiebt sich die traditionelle dritte Schabbatmahlzeit (Se'udat Shlishit) auf einen früheren Zeitpunkt.
Der Shulchan Aruch (Orach Chaim) lehrt, dass es den Minhag (Brauch) gibt, beim Se'udat Mafseket Linsen und Eier zu sich zu nehmen. Beide Speisen sind ein Zeichen der Trauer. Auf Fleisch und Wein sollte ganz verzichtet werden.
Außer der Freude, sollten auch jegliche Bequemlichkeiten vermieden werden. In den Synagogen sitzen wir zum Abend – und Morgeng – ttesdienst nicht auf den Bänken, sondern viele bringen sich einen niedrigen Stuhl oder Hocker mit.
Hier die wichtigsten Halachot (Gesetze) für den Tisha Be' Av zusammengefaßt aus dem Shulchan Aruch ff.:
1. Essen und Trinken ist absolut verboten.
2. Lederschuhe aller Art dürfen nicht getragen werden, da Leder ein Zeichen für Bequemlichkeit ist. Stattdessen sollen Leinenschuhe oder Sportschuhe ohne Leder getragen werden. In Jerusalem laufen viele Leute einfach barfuß.
3. Sex ist verboten.
4. Sich duschen oder sonst irgendwie waschen ist verboten. Es sei denn, man bereitet sich aufs Gebet vor oder kommt von der Toilette.
5. Es ist Brauch, die Nacht auf einer Matratze auf dem Fussboden zu verbringen oder sein Bett einfach umzudrehen.
6. Zum Morgengebet Shacharit legen Maenner keine Tefillin, sondern erst zum Nachmittagsgebet Mincha.
7. Das Thorastudium ist am Tisha Be' Av verboten. Stattdessen sollten die Megillath Eicha, das Buch Iyov (Hiob) oder der Talmud Traktat Taanit gelernt werden.
8. Abends und morgens wird in den Synagogen die Megillath Eicha gelesen. Eicha ist die Prophezeihung des Propheten Jeremiah (Yirmeyahu) und beschreibt die Zerstörung des Ersten Tempels und die Zeit danach.
9. Ausserdem werden KINOT gelesen, wobei hier zwischen ashkenasischen und sephardischen Kinot zu unterscheiden ist. In den Kinot sind viele Schicksalsereignisse in der Geschichte des Judentums aufgelistet.
Wer in Jerusalem zur Klagemauer kommt und keine Kinot dabei hat, der kann sie vor den Eingängen für ca. 10 Shekel erstehen. Allerdings werden dort fast nur sephardische Kinot angeboten, was aber nicht von so grosser Relevanz ist. Hauptsache Kinot. Während dem Lesen der Kinot sitzen die Leute vor der Klagemauer gewöhnlich auf dem Boden.
Überhaupt nimmt Jerusalem am Tisha Be' Av einen besonderen Status ein, denn hier vor der Klagemauer befinden wir uns am Originalschauplatz. Viele Leute stellen sich beim Aufblicken auf den Tempelberg schon den Dritten Tempel vor. Tausende machen sich am Montag Abend auf zur Klagemauer und der gesamte Platz an und um die Kotel ist jedes Jahr vollkommen überfüllt. Nicht wenige bringen Matratzen oder Schlafsäcke mit, denn sie schlafen die ganze Nacht ueber vor der Klagemauer. Der ganze Platz gleicht einem riesigen Campingplatz. Wer keinen Schlafsack dabei hat, der setzt sich auf das Pflaster und liest Kinot. Es sei jedem anzuraten, rechtzeitig zur Kotel zu gehen, denn schnell werden sämtliche Plätze belegt sein.
Ein zweiter Brauch in Jerusalem ist der "Marsch um die Stadtmauer", welcher von der Vereinigung der "Women in Green", einer rechtsorientierten Organisation, organisiert wird. Seit vielen Jahren ist der Marsch Tradition. Ob ich allerdings in diesem Jahr daran teilnehme, steht noch in den Sternen, denn im vergangenen Jahr störte es mich immens, dass die Veranstaltung fast nur noch in einer politischen Kundgebung ausartete.
Der Marsch beginnt dieses Jahr um 22.00 Uhr vor dem neuen Rathaus. Tausende von Menschen, vor allem die Nationalreligioesen, kommen aus allen Landesteilen zu dem Ereignis angereist. Offiziell wird die Veranstaltung um 21.30 Uhr mit dem Lesen der Megillath Eicha eingeleitet. Danach wird sich zum Marsch aufgestellt.
Wie sich sicher jeder vorstellen kann, wird der Marsch streng bewacht; fast alle fünf Meter steht ein Soldat. Es geht hinunter zum Damaskus – Tor hin bis zum Löwentor, wo einige Politiker Reden halten werden. Im Jahre 2001 war noch Ehud Olmert als Buergermeister dabei und proklamierte ganz gross, dass er Jerusalem niemals abgeben werde. Heutzutage sind wir uns dessen bei ihm nicht mehr allzu sicher. Die Hauptrede wird, wie gewöhnlich, der Knessetabgeordnete der Ichud HaLeumi, Aryeh Eldad, halten. Veranstalterin Nadja Matar ist selbstverständlich auch mit von der Partie. Endziel ist die Klagemauer.
Warum genau wurden beide Tempel zerstört und warum ist das heute noch so wichtig für das Judentum ?
Viele der Antworten darauf finden wir im Talmud.
Der Erste Tempel, welcher von König Salomon erbaut und im Jahre 586 vor der Zeitrechnung von den Babylonier zerstört worden war, hatte eine wesentliche wichtigere Bedeutung als der Zweite Tempel. Zu der Zeit waren Wunder allgegenwärtig. Die Bundeslade befand sich noch im Allerheiligsten (Kodesh HaKedoshim) und G – ttes Präsenz (Shechinah) war überall. Es gab Hunderte, wenn nicht sogar Tausende von Propheten und das Feuer vom Altar (Mizbeach) reichte direkt hinauf in den Himmel. Kabbalistisch betrachtet verband diese Wolke die untere mit den spirituellen oberen Welten.
Warum wurde der Erste Tempel zerstört ?
Aufgrund von drei Vergehen. Goetzendienst, sexuelle Perversionen und Mord (Talmud Yoma 9b). Die Juden vergaßen G – tt, die Thora und die Mitzwot und wandten sich lieber anderen G – ttern zu. Vor allem die Tofet, ein Ort gleich außerhalb der Stadtmauer, erlangte traurige Berühmtheit, denn in der Tofet opferten sie ihre Kinder an fremde G – tter. Einige Kommentare lauten, dass sie die Menschenopferungen an G – tt geopfert haetten, denn fälschlich meinten sie, dass dies so sein müsse.
G – tt duldete dieses Treiben nicht mehr und veranlaßte die Zerstörung des Temples. Doch wie wir aus der Thora wissen, tut G – tt soetwas nie von heute auf morgen, sondern gibt den Menschen Hinweise. Wenn die Menschen die Hinweise wahrnehmen und zu G – tt umkehren (Teshuva machen), aendert G – tt seine Meinung. Falls dies nicht geschieht, nimmt das Schicksal seinen Lauf. Laut dem berühmten Rabbiner Aharon Kotler glaubten die meisten Juden an die Thora, aber sie sahen keinen Sinn in ihr und somit kam das Spirituelle der Thora nicht mehr herüber. Das chassidische Buch Bnei Yissachar sowie der Talmud lehren uns, dass sich die Gesichter der zwei Cherubim (Engel mit Kindergesichtern auf der Bundeslade) ansahen, wenn die Juden G – ttes Willen erfüllten. Sobald sie sich von G – tt abwandten, schauten die beiden Cherubim in gegengesetzte Richtungen. Allein schon diese Tatsache hätte den Juden eine Warnung sein müssen.
Nach der Zerstörung des Ersten Tempels wurden die Juden für 70 Jahre ins babylonische Exil geschickt. Nach Ablauf der 70 Jahre war es ihnen freigestellt, nach Israel zurückzukehren und den Tempel wieder aufzubauen. Die Gemara im Talmud Yoma lehrt uns, dass der Erste Tempel nicht vollkommen zerstört worden war. Mehr oder weniger war fast nur das Dach beschädigt. Ezra etc. bauten den Tempel wieder auf und später wurde er von Herodes erweitert. Im Jahre 70 nach Beginn der Zeitrechnung wurde er von den Römern zerstört.
Gibt es einen Unterschied zwischen dem Ersten und Zweiten Tempel ?
Ja, eindeutig, und das nicht nur architektonischer Art.
Nur 42.360 Juden waren mit Ezra aus dem babylonischen Exil nach Israel heimgekehrt, was die Gemara in Yoma 10a als einen der Gründe ansieht, warum der Zweite Tempel weniger an Keduscha (Heiligkeit) besaß. G – tt war ärgerlich über die im Exil verbliebenen Juden, die sich in Babylon eine Heimat aufgebaut hatten und dort ihr Leben geniessen wollten.
Im Talmud Yoma heißt es, dass es fünf Unterschiede zum Ersten Tempel gab:
1. Es gab keine Bundeslade mehr. Bis heute wurde die Bundeslade nicht gefunden und der Talmud listet unterschiedliche Lokalitäten der Lade auf.
2. Das Feuer vom Altar (Mizbeach) reichte nicht mehr hinauf in den Himmel.
3. Es gab keine Shechinah (G – ttes) Präsenz bzw. sie hatte sich weiter von uns entfernt.
4. Die Zeit der Propheten war vorüber. Stattdessen haben wir bis heute eine sogenannte Bat Kol, welche Raschi als das Echo einer himmlischen Stimme bezeichnet.
5. Auch gab es kein Urim ve Turim mehr. Eine Schriftrolle mit den Namen G – ttes. Diese wurde in das Choshen des Cohen HaGadol (Hohepriester) gesteckt und aufgrunddessen war er in der Lage, Fragen zu beantworten. Er brauchte nur zu sehen, welche Buchstaben auf dem Choshen aufleuchteten und schon hatte er G – ttes Antwort. Der Ramban und die Tosafot vertreten die Meinung, dass es kein Urim ve Turim ohne Ruach HaKodesh (ein bestimmter Level der Prophezeihung) geben kann.
Mir persönlich ist noch der Schamir eingefallen, der nach der Zerstörung des Ersten Tempels verschwand. Mit dem Schamir, einem offenbar kleinen Wurm, der alles zerschnitt, was ihm in den Weg kam, baute König Salomon den Ersten Tempel. Niemand weiß, was genau der Schamir war und im Talmud gibt es verschiedene Meinungen. Ein jüdischer Tempel darf niemals mit Metallwerkzeugen gebaut werden, da diese Waffen repräsentieren. Daher benutzte Koenig Salomon den Schamir, von dem es heißt, dass er nur für diesen Zweck von G – tt erschaffen worden war.
Seit der Zerstörung des Zweiten Tempels warten wir Juden auf die Ankunft des Meschiach, der den Dritten und somit letzten und ewigen Tempel bauen wird. Laut dem Rambam ist der Tempel schon im Himmel gebaut und kommt in der Zeit des Meschiach hinab auf den Tempelberg.
Warum wurde der Zweite Tempel zerstört ?
Die Antwort gibt uns wiederum der Talmud Yoma 9b.
Aufgrund von gegenseitigem Haß ließ G – tt es zu, dass die Tempel zerstört wurde. Die Juden hielten zwar die Thora ein, doch beneideten sie sich gegenseitig und jeder wollte besser sein als der andere. Rabbi Yonatan Eibeschütz ist der Meinung, dass der Bruch innerhalb der Gesellschaft auf den Bruch zwischen den Thoragelehrten und den nichtreligiösen Juden zurückzuführen ist. Viele einfache Leute waren neidisch auf die Gelehrten. Später bildeten sich die Sadduzäer (Zadukim), welche die mündliche Überlieferung (die Mishna im Talmud) und die Authorität der Rabbiner nicht anerkannten. Ein Trugschluß, denn wer die Thora verstehen und einhalten will, der kann auf G – ttes mündliche Überlieferung an Moshe (die Mishna) nicht verzichten. Erst durch sie erfahren wir, wie wir genau die Gesetze einhalten und ausführen.
40 Jahre vor der Zerstörung des Zweiten Tempels gab G – tt die ersten Zeichen, welche die Juden nicht sehen wollten und ignorierten (Talmud Yoma 39b). u.a. öffneten sich die Tore zum Innenhof (Heichal) von allein, was andeutete, dass der Feind leichten Einlaß haben wird (Rashi). Nach dem Tode des großen Cohen HaGadol (Hohepriesters) Schimon HaZaddik gab es keinerlei Wunder mehr (Maharsha). Auch löschte die Tempelmenorah von allein ihre Kerzen. Umkehren zu G – tt taten die Juden nicht und so nahm das Schicksal seinen Lauf. Ein Schicksal, unter dem wir noch heute leiden. Hoffen wir, dass der Meschiach bald kommen wird und den Dritten Tempel baut.
Zum Schluß noch ein paar aufmunternde Worte vom ersten Oberrabbiner Israels, Rabbi Avraham Yitzchak HaCohen Kook (Kuk). Er schrieb, dass die Hoffnung auf die Ge'ulah (Erlösung) das Volk Israel auch in der Disapora am Leben erhält. Eine Funke G – ttes ist in jedem von uns, der mit uns in die Diaspora geht. Der Funke erinnert uns immer an Israel und wirkt wie in Magnet darauf. In den USA gedenkt man am Tisha Be' Av gleichzeitig auch dem Holocaust. Der Holocaust ist ein weiteres jüdisches Desaster in unserer jüngsten Geschichte. In Israel kommen ab und an Diskussionen auf, ob der Tisha Be' Av nicht auch hier der offizielle Holocaust – Gedenktag werden soll.
Wie ich zuvor schon einige Male erwähnte, sollten wir trotz allem unseren Blick in die Zukunft lenken und hoffen, dass die Ge'ulah bald eintreffen wird.
In Israel sind am Tisha Be' Av viele Geschaefte geöffnet und Leuten arbeiten. Allerdings gilt, dass Leute, die arbeiten, ihr Geld spenden sollen. Man sollte keinen Nutzen von dem erwirtschafteten Geld an dem Tage haben. Die Busse fahren ganz normal und grundsätzlich gelten nicht die Regeln wie am Schabbat. Außer den o.g. Halachot.
Ich wünsche allen ein leichtes Fasten – Zom Kal !!!
Mittwoch, August 06, 2008
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