Montag, März 17, 2008

Nachricht an die Verzweifelten

B"H

Obwohl Deutsch meine Muttersprache ist, benutze ich es ausgesprochen selten. Meine Grammatik fällt manchmal dementsprechend aus und meine Wortwahl ist alles andere als germanistisch einwandfrei. Gefühle und anderes Persönliches kann ich besser auf Englisch oder Hebräisch ausdrücken und vor allem das Englische ist viel reicher an Wörtern als Deutsch.

In diesem Artikel versuche ich mein Bestes, den richtigen gefühlvollen Sinn wiederzugeben. Fühlt der ein oder andere, dass mir dies nicht gelang, kann er im Englischen nachlesen.
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Immer passiert es gerade mir.
Ich betrete einen Raum und alle Verzweifelten der Welt schauen mich sofort an. Und mit mir reden wollen sie gleich auch noch. Irgendwie scheine ich auf manche eine Anziehung zu haben und bis zum letzten Schabbat war mir der Grund dafür unklar.

Einige Male zuvor habe ich schon erwähnt, dass ich besonders bei extrem chassidischen Gruppen "verzweifelte" Mädels anziehe. Bisher hatte ich zwei Fälle. Der erste Fall trug sich im vergangenen September zu. Bei einem chassidischen Tisch erschien vor mir eine junge Frau wie aus dem Nichts und fragte, ob ich mich an sie erinnern würde. Eigentlich hatte ich schon das "NEIN" auf den Lippen als ich die Verzweiflung in ihren Augen sah. Und so sagte ich "JA".
Sie lächelte und setzte sich neben mich. Es war offensichtlich, dass sie mit mir reden wollte, doch sassen wir hinter der Rebbitzen und überhaupt waren zuviele Leute um uns herum. Die ganze Situation machte mir Angst und ich war heilfroh als keine Konversation zustande kam.

Mein letzter Fall ereignete sich vor fast zwei Wochen.
Wieder in der Toldot Aharon Synagoge. Nur dieses Mal beim Schacharit, dem Morgengebet. Ich verzichte hier auf die genauen Details. Kurz gesagt, wieder starrte mich eine junge Frau an. Der gleiche verzweifelte Ausdruck in ihren Augen.
Mag sein, dass ich mich total daneben anhöre, aber die Situation ist so passiert. "Oh no, nicht schon wieder". Die junge Frau saß weiter weg neben ihrer Mutter und irgendwann gingen dann beide heim.

Am letzten Schabbat ging ich mit einer Freundin zur Toldot Aharon Abspaltung, den Toldot Avraham Yitzchak. Und Ihr werdet es kaum glauben, was geschah.
Schon nach einer kurzen Zeit sagte meine Freundin, dass ich doch einmal unauffällig nach links schauen solle. Ich sah, dass mich eine weitere verzweifelte junge Frau anstarrte. Wir zumindest taten unauffällig, aber die junge Frau verbarg ihre Blicke nicht einmal. Als sie nach einer Weile verschwand, waren wir regelrecht froh darüber. In der Zwschenzeit hatte ich eh begonnen, mich mit den chassidischen Frauen der Avraham Yitzchak angeregt zu unterhalten. Wir redeten und redeten und plötzlich fiel mein Blick auf die obere Sitzreihe. Das verzweifelte Mädchen war keineswegs, wie angenommen heimgegangen, sondern vielmehr näher gerückt.

Meine Freundin und ich nennen diese junge Frauen immer "verzweifelt – The Desperate" und sie sehen aus als seien sie unglücklich verheiratet, haben ein unzufriedenes Leben oder was auch immer. Wir können nur annehmen, dass in ihrem Leben offensichtlich etwas schiefläuft, wissen jedoch nie Genaues.
Die Frage ist nur: Warum starren sie immer mich an ? Warum ?

Meine Freundin meinte, dass die Verzweifelten immer mich anschauen, eben weil ich anders bin als sie selbst. Ich trage relig., wenn auch moderne Kleidung, und nicht die übliche chassidische "Uniform". Wenn ich es einmal "Uniform" nennen darf. Jedenfalls nicht den "Avraham Yitzchak Kleidungsstil".
Ich bin anders und diese Tatsache scheint viele magisch anzuziehen. Vielleicht wollen sie mit einem Outsider plaudern ? Verschiedene Themen ansprechen und nicht nur immer über Religion und Chassidut reden. Nennen wir es "Neugier".
Jedenfalls war ich unfähig, eine passende Antwort zu finden und meine Freundin hatte auch nichts Besseres im Repertoire.

Bei der dritten Mahlzeit am letzten Schabbat (Seudat Schlischit) beschrieb ich die Situation einer weiteren Freundin, die gleichzeitig auch Ärztin ist. Natürlich erhoffte ich mir aufgrund ihrer Menschenkenntnis eine Antwort, die auch prompt kam:

"Weißt Du warum ? Weil sie Dich viele Male bei ihren chassidischen Tischen sehen. Und jedesmal sprichst Du mit den Frauen. Du stellst nicht einfach so Fragen, wie alle anderen Tischbesucher; Du sprichst verschiedene Themen an, wie die Religion etc. Egal was, aber sie sehen, dass Du die Sache ernst nimmst und Dir wirklich etwas an ihnen liegt. Du gehst nicht einfach hinein, fragst nebensächlich und oberflächlich herum, nur um dann wieder abzuhauen. Du veranschiedest Dich nicht nach fünf Minuten wieder. Und darum würden sie gerne mit Dir sprechen; weil Dir etwas an der Gruppe liegt."

Ich bin meiner Freundin Channah sehr dankbar für ihre einleuchtende Antwort. Zutreffend, wie ich finde.

Bevor ich jedoch diese geradezu geniale Antwort erhielt, fragten mich verschiedene Leute Folgendes:

"Jetzt laß uns einmal annehmen, dass eine dieser jungen Frauen auf Dich zukommt und beginnt, Dir ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Sie ist unglücklich, unzufrieden, ihr Gatte ist nicht der Traumprinz und ihr geht es miserabel.
Wie würde dann Deine Antwort lauten ? Wie würdest Du reagieren und was sagst Du ihnen ?"


Wenn diese Situation wirklich jemals eintreffen sollte, dann fühlte ich mich in meine eigene Vergangenheit zurückversetzt. Die haredische (ultra – orthod.) Gesellschaft und die Religion verlassen. Zumindest für eine Weile.
Nur ein Ignorant könnte sagen: "Oh, toll, ich habe die Antwort auf alle Deine Probleme. Verlasse Mea Shearim und die Religion. Sei frei und mach, was Du willst." Derlei Rat ist dämlich und nur ein Vollidiot täte soetwas vorschlagen. Jemand, der sich nicht um ein persönliches Schicksal schert.

Vor einigen Jahren passierte mir einmal ein ähnlicher Fall und es war ein furchtbares Gefühl. Nichtsdestotrotz, der damalige Fall lag anders, denn der Chassid wollte keinen G – tt und keine Religion. Es gab keinen G – tt für ihn und alles, samt Thora, war nur ein Märchen.

Glaubt es oder nicht, ich kann das durchaus akzeptieren. Niemand sollte gezwungen werden, relig. oder chassidisch zu leben. Lasst solche Leute in Ruhe und wer weiß, vielleicht kehren sie ja später zurück zur Religion. Vielleicht brauchen sie nur eine gewisse Aus – Zeit.

Der Fall mit den jungen Frauen liegt anders. Diese sind religiös und wollen es auch bleiben. Nur sind sie in ihrem Leben unglücklich. Laßt uns annehmen, dass sie eine schlechten Schidduch (Ehepartner) bekamen oder einfach Neugierde am Leben zeigen.
Was hat eine junge Frau in einer extremen chassidischen Gruppe vom Leben zu erwarten ?

Zur Schule gehen, der Mutter im Haushalt zu helfen und einen Ehepartner zu finden. Einem Typen, den sie eventuell gar nicht richtig kennt (igitt), und zusätzlich wird von ihr verlangt, dass sie gemäß ungarischer Tradition ihre Haare vom Kopf abrasiert (nur auf manche Gruppen zutreffend). Kinder kriegen und ein Leben aufbauen. Eine gute relig. Mutter sein.
Ist das ein Leben ?
Nach relig. Maßstäben sicherlich JA.

Da ich aus einer anderen Welt komme, habe ich keine Probleme damit, diese jungen Frauen zu verstehen. Nicht jeder Jude ist für den Chassidismus gemacht und schon gar nicht für deren Gesellschaft. Natürlich ist es bei denjenigen, die in die Gesellschaft hineingeboren worden sind, anders. Dann hat man weniger Wahlmöglichkeiten. Genauso wie diese Frauen. Und was soll man dann tun ? Den Regeln folgen und falls nicht, zum Outlaw abgestempelt werden ? Die Gruppe verlassen ?

Und was erwartet einen draußen in der Welt ? Eine Gesellschaft, die man nicht kennt. Ein rücksichtslose und manchmal brutale Gesellschaft. Wenn man keine verständnisvollen Eltern bzw. einen Rebben hat, ist man allein. Allein in einer neuen Gesellschaft, die es nicht interessiert, woher Du kommst. Niemand interessiert sich für Deine Geschichten; niemand wird im geringsten ein Verständnis für deine Vergangenheit aufbringen. Ohne weltliche Bildung wirst Du gezwungen, Dich anzupassen. Dich zu assimilisieren. Falls nicht, bist Du wieder ein Outlaw.

Wo ist all die Fürsorglichkeit der Gruppe ? Wo sind Deine Freunde und Ideale ?
Sehr bald schon wirst Du die Gruppe vermissen und was dann ? Rückkehr JA oder NEIN ?

Besonders für chassidische Frauen sind dies schwere gravierende Entscheidungen auch wenn es Hilfegruppen gibt (wenigstens in Israel).

Die Antwort an meine Freunde lautete, dass ich alles daran setzen täte, die junge Frau in der chassidischen Gesellschaft zu halten. Sollte sie nur ihren Gatten loswerden oder anderweitige Probleme lösen wollen, okay. Ich bin mir sicher, dass sich da ein Weg findet. Niemals sollte jemandem geraten werden, die Gruppe zu verlassen. Ich selbst weiß, wie hart diese Entscheidung ist.

"Geh, habe ein tolles Leben, sei frei und ohne jeglichen Gruppenzwang. Wow, great".

Aber was ist mit Deinen Schuldgefühlen ?
Sich schuldig fühlen, die Gruppe verlassen zu haben. Sich schuldig vor G – tt fühlen.
Was ist mit Deinem vorherigem perfektem religiösem Leben ?
Niemals wirst Du von den Schuldgefühlen ganz frei sein. Die Außenwelt wird nicht wissen, von was Du da redest und Du bist allein. Niemand wird Dich verstehen.

Du kannst die Gruppe verlassen, aber egal, wohin Du gehst, das Schuldgefühl wird Dich immer begleiten. Was immer Du tust und wo immer Du bist. Selbst dann, wenn Du die Schuld doch einmal vergessen solltest.

Ich hoffe sehr, dass die Situation niemals eintreten wird, indem mir eine dieser jungen Frauen ihr Leben erzählt. Falls ja, werde sie ich zu überzeugen versuchen, die passende Lösung zu finden. Einen internen Sozialarbeiter konsultieren. Von der Gruppe selbst oder außerhalb. Nur religiös muß er sein, denn das ist extrem wichtig.

Hoffentlich komme ich nie in diese Situation, selbst wenn mich die Verzweifelten anstarren. Insgesamt jedoch sehe ich es nicht als meine Aufgabe, interne Gruppenkonflikte zu lösen.

4 Kommentare:

  1. ... huch mich hat jemand traurig angesehen, oh oh es war nicht das erstemal. Geh doch auf diese frauen zu und sehe was Du für diese Frauen machen kannst. Oder mach so als hättest Du es nicht bemerkt. Aber mach bitte nicht so ein Sims um Dich. In Jerusalem mag Dein freitäglicher Trip ganz aufregend sein. In Europa hilft man oder läßt es bleiben - ohne Ausflüchte.
    mag Dein Blog trotzdem
    Ralf

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  2. B"H

    Es sind ganz und gar Ausfluechte. Man geht nicht einfach so auf Chassidim zu und faengt an zu "helfen".
    Wer die Gesellschaft kennt, der weiss, dass sich genau dort alles anders verhaelt und andere Verhaltensregeln gelten. Und man startet als Aussenstehender mit keinem Helfersyndrom.

    Uebrigens hat mich Deine Reaktion ueberrascht. Auf solche Idee ist noch niemand, den ich kenne, gekommen. Aber "never mind".

    Lies meinen Blog weiter und vielleicht wird Dir doch irgendwann die chassidische Welt etwas klarer.:-))))

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  3. ... Helfersyndrom ! Ein wirkliches Todschlagargument. Nur zu toppen mit "Gut Mensch" ein Schimpfwort für Christen. (Juden hassen und beleidigen devizieler) Wollte dich nicht angreifen und auch nicht verletzen. Und helfen sollte man in keiner Sprache zwischen ".." Zeichen setzen.
    Einen lieben Ostergruß nach Jerusalem.
    Dein Ralf

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  4. B"H

    Ralf, Du nimmst alles so tragisch ernst. Richtig Deutsch.:-)))

    Du hast mich doch ueberhaupt nicht beleidigt.

    Nur helfen kann ich nicht, denn die Gruppen sind geschlossen und es wuerde eine einzige Katastrophe werden, wenn ich mich da einmische.

    Gruesse aus dem sommerlichen Jerusalem.

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