Donnerstag, März 27, 2008

"Wo bitte gehts zum richtigen Ausgang" ?

B"H

Jeder Stammleser dieses sowie meines englischen Blogs weiß, dass ich mich mehr als häufig mit dem einer Problematik auseinandersetze, welche vor allem in Deutschland kaum bis gar nicht bekannt sein dürfte. Es geht um Haredim (Ultra – Orthod.), die sich entscheiden, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen, um sich irgendwo anders ein neues Leben aufzubauen. Entweder werden sie säkuler oder auch nicht. Jeder Individualfall ist anders gelagert.
Mir liegt das Thema deswegen so sehr am Herzen, weil ich selbst einmal betroffen war und innerhalb all der verstrichenen Jahre immer noch keine für mich befriedigende Antwort / Lösung gefunden habe.

Hervorheben sollte ich aber auf alle Fälle, dass ich niemals vorhatte, die Religion geschweige denn G – tt zu verlassen; nur eine kleine Pause / "Auszeit" sollte schon her. Deswegen kann von Verlassen keine Rede sein. Außenstehende mögen meinen, dass die "Auszeit" nur ein anderes Wort für ein säkuleres Lotterleben ist. Eine Entschuldigung sozusagen, die einem gleichzeitig die Freiheit gibt, zu tun und zu lassen, was man will. In den ersten Wochen meiner "Auszeit" tat ich sicherlich alles andere als die Mitzwot (Gesetze) einzuhalten. Nur die ganzen Mitzwot zeitweilig vergessen, aber nur, um später wieder den Weg zurück einzuschlagen.

Es versteht sich von selbst, dass in jenem Verhalten gewisse Gefahren stecken. Wenn jemand von der Religion, der Gesellschaft bis hin zu einem selbst, die Schnauze gestrichen voll hat, ist es wesentlich vorteilhafter, eine Auszeit zu nehmen als konstant in einer Depression zu versinken. Wie gesagt, ich wollte weder Religion noch G – tt verlassen, sondern hatte lediglich die Nase voll von einer oft Druck ausübenden haredischen Gesellschaft sowie meinen eigenen Druck, den ich mir selber auferlegte. Jedoch kann man nicht von heute auf morgen dazu entscheiden einfach abzuhauen und sich eine Scheibe Schinken in den Mund zu schieben, nur um so seine Rebellion bekannt zu geben. Auf diese Weise der Gesellschaft klarzumachen, dass man die Schnauze voll hat und das einen alle einmal sonstwie können. Die Haredim hingegen reagierten in ganz unterschiedlicher Weise, sodass ich mehr als überrascht war. Nur ganz wenige fanden mein Benehmen abscheulich. Die Mehrheit dagegen zeigte sehr viel Geduld und war der Meinung, dass eine Krise immer nur zeitbedingt ist und ich eh früher oder später meinen Weg wieder zurückfinden werde.

Ich jedenfalls entschied mich vorerst, eine Auszeit zu nehmen, etwas anderes zu sehen und etwas anderes zu denken. Und so zog ich für einige Zeit zurück nach Deutschland, wo alles ganz anders ist. Dabei hatte ich jedoch vergessen, dass gerade in dem Lande niemand mein Problem verstehen wird. Die Mehrheit der deutschen Juden hat keine Ahnung vom haredischen Leben in Israel oder in New York. Wenn sie einen Chabadnik sehen, denken sie schon, sie seien in der Mitte von Mea Shearim. Alle meine Freunde waren Nichtjuden, denn Deutschland ist nicht wie England oder die USA, wo man haufenweise jüdische Freunde finden kann. Wer nicht ausgerechnet in Frankfurt, München oder Berlin lebt, der muß sich mit nichtjüdischen Freunden begnügen. Und mich andernorts mit Reformkonvertiten abzugeben liegt mir mehr als fern.

Die ganze Problematik spukt mir immer noch im Kopf herum, denn wie gesagt, habe ich noch nicht herausgefunden, warum mir das passiert ist. Ich weiß nur zu gut, dass wenn ich mich zu einem orthodoxen oder besser gesagt chassidischen Rabbiner begeben würde, er mir rät, jetzt endlich einmal den Sprung zu wagen und zurückzukehren, anstatt ewig zu jammern oder nach Gründen zu suchen. Agieren und nicht zuviel nachzudenken.

Vielleicht ist das mein Problem, wer weiß. Nichtsdestotrotz bin ich auf der Suche nach einer perfekten Lösung und vielleicht sollte man das Problem bei der Wurzel anpacken, eh man sich voreilig in irgendeine neue Situation stürzt.

Für mich hat sich die "Auszeit" sehr positiv ausgewirkt, obwohl ich sie mehrheitlich ganz und gar nicht genossen habe. Sobald man die Mitzwot nicht einhält, kriecht einem sofort das Schuldgefühl in die eigenen Gedanken. Während einer Mittagspause ging ich einmal in eine Schlachterei, um mir eine belegte Semmel zu kaufen, welche nicht gerade vor Kaschrut triefte. Bei der Bestellung an der Ladentheke hatte ich unweigerlich das Gefühl, dass mich jetzt alle Anwesenden im Laden anschreien werden: "Diese Wurst ist nicht für Dich und Du mußt koscher essen." Dennoch war es kein Schuldgefühl, welches mich wieder auf die relig. Bahn zurückverfrachtete. Nach einer Weile des Lotterlebens sah ich ein, dass es dumm und oberflächlich war. Ich machte mir nur etwas vor und die ganze Flucht erschien keinen Sinn mehr zu ergeben. Das war dann auch der Moment, indem ich meine tief im Schrank verstauten relig. Bücher wieder hervorholte und meine Krisen erneut zu überdenken begann.
Ich hörte einmal von einem israelischen Rabbiner, dass jeder "Fall" auch etwas Positives mit sich bringt. Man fällt religiös oder spirituell recht tief, aber nur um sich letztendlich zu besinnen und somit zu einem höheren Level aufzusteigen. Jedenfalls geht es vielen wie mir so. Und ein "Fall" macht einen nicht zum "hoffnungslosen Fall". Besonders Rabbi Nachman von Breslov warnt vor relig. Depression und Krise (aber auch der Alter Rebbe von Chabad in seinem Buch TANYA). Rabbi Nachman macht in seiner Literatur jedem Hoffnung sich aus dem Fall zu befreien und neuen Mut zu schöpfen. Nur niemals resignieren, so seine Worte.

Nicht jeder Jude ist dazu bestimmt, sich der haredischen Gesellschaft anzupassen oder unterzuordnen. Und nicht jeder eträgt eine Gesellschaftsform, die oft zuviel Druck ausübt bzw. einen dazu verleitet, Druck auf sich selbst auszuüben. Wenn jemand hineingeboren worden ist, dann ist es natürlich umso schwerer, sich klarzumachen, dass man irgendwo fehl am Platze ist.
Vor wenigen Tage machte ich mir einmal die Mühe, die Website der israelischen Organisation "Hillel" etwas näher unter die Lupe zu nehmen. Hillel verhilft Haredim, welche sich fest entschlossen haben, ihr bisheriges Leben aufzugeben, zu einem neuen Start. Sozusagen ein neues Leben aufzubauen. Ein neues Leben ohne die Religion. Jeder, der will, kann Hillel anrufen. Die Nummer ist leicht im Internet zu finden und aus Sicherheitsgründen vermeidet es die Organisation, ihre Adressen in Jerusalem und Tel Aviv zu nennen. Einige Male schon wurde ihr Büro von Haredim gestürmt und verwüstet.

Als ich mich damals in der Krise befand, hielt ich die Telefonnummer von Hillel in der Hand und dachte daran anzurufen. Mir war ihre Jerusalemer Lokalität bekannt und genau drei Stunden saß ich gegenüber in einem Park und dachte nach. Schließlich entschied ich mich, nicht anzurufen. Eine nationalreligiöse Sozialarbeiterin hatte mich gewarnt: Wer erst einmal in einem Hillel – Programm landet, der kann die Religion vergessen. Hillel gibt einem Unterkunft (denn in aus der haredischen Gesellschaft ist man raus und hat kein Zuhause mehr) und eventuell einen Job; grundlegendes Ziel der Organisation ist es jedoch, die Aussteiger absolut von der Religion fernzuhalten. Auf ihrer Homepage suchen sie standing Voluntäre und ich frage mich ernsthaft, was mir da so ein säkulerer Voluntär erzählen bzw. wie er mir helfen will, wenn er von der Problematik Null Ahnung hat. Und was ist überhaupt, wenn es sich um jemanden wie mich handelt ? Jemand, der nur zeitweilig aussteigen und klare Gedanken fassen will ? Besonders dann ist man mit Hillel mehr als schlecht beraten, da es sich um eine völlig säkulere Einrichtung handelt. Und was weiß da ein Voluntär von den Krisen, in denen man sich befindet ?

Die Jerusalemer Stadtverwaltung (und vielleicht auch andernorts) bietet da schon bessere Lösungen an. Sie verfügen über ein professionelle Sozialarbeiternetz und es wird versucht, einen Kompromiß zwischen den Eltern und dem Aussteiger auszuarbeiten. Die Lösung betrachte ich als weitaus effektiver. Selbst wenn sich jemand für den endgültigen Ausstieg entscheiden sollte, ist es immer ratsamer, mit der eigenen haredischen Familie in Kontakt zu bleiben und nicht alles total aufzugeben. Hierin scheitert Hillel, denn ihre interne Politik lautet "Weg von der Religion und weg aus der gewohnten Umgebung". Aber jeder muß bekanntlich selber entscheiden, was gut für ihn ist.

Wer sich tatsächlich nur eine "Auszeit" nehmen will, der ist mit Hillel schlecht beraten. Er verschwndet seine Zeit und die Institution selbst ist reine Zeitverschwendung.

Was also ist dann das Beste für den Betroffenen ?
Mit einem Rabbi oder einem relig. kompetenten Sozialarbeiter reden ? Selbst wenn dem nicht so sein sollte, wird fast jeder nach einer Weile irgendwie wieder zurückfinden. Langsam fällt er eine Entscheidung und auch die Rückkehr sollte langsam angegangen werden.

2 Kommentare:

  1. Anonym5:44 PM

    "Sobald man die Mitzwot nicht einhält, kriecht einem sofort das Schuldgefühl in die eigenen Gedanken"

    was ich bei deinem lamento nicht verstehe: wieso ist das verlassen des haredischen judentums für dich gleichgesetzt mit einem "nichteinhalten der mitzwot"?
    man muss nicht in bne brak, in mea shearim oder givat shaul wohnen, um die mitzwes einzuhalten.

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  2. B"H

    In dem Text bezweckte ich mit diesem Satz "die Einstellung jeglicher Mitzwot", was nichts mit dem haredischen Leben an sich zu tun hat, sondern allgemein gilt. Egal ob nationalrelig., etc.

    Insgesamt sehe ich mich bei den Chassidim, aber gewiss nicht in Bnei Brak oder Mea Shearim. Die Philosopie liegt mir aber eher als, z.B., die nationalrelig.

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