Freitag, September 04, 2009

Orthodox bedeutet NICHT Haredi

B"H

Viele Leute, die auch nur das Wort "Orthodoxie im Judentum" vernehmen, denken unverzüglich an Mea Shearim und irgendwelche sonstigen Fanatiker. "Wenn ich orthodox werde, muss ich mich zwangsläufig haredisch (ultra - orthodox) kleiden und mein Leben wird ohne jegliche Freude sein".

Dass dem ganz und gar nicht so ist, habe ich schon unzählige Male zu vermitteln versucht.
Ich persönlich laufe nicht ständig im langen Rock und mit langen Ärmeln herum. Vielmehr kleide ich mich unter der Woche (wenn ich zu keinen relig. Events oder in diverse Stadtteile gehe) ganz "normal" in Hose und T - Shirt. Nicht zu eng anliegend und niemals mit Ärmeln, welche nicht über den Ellbogen reichen. Aber dies täte ich auch so machen; völlig abgesehen von der Religion.

Warum sehen viele Juden die Orthodoxie als etwas Fundamentalistisches, die eigene Individualität einengend (ohne) jegliche Lebensfreude ? "So kann und will man einfach nicht sein; mit all den Mitzwot (Gesetzen) und so".

Wer sich gerade jetzt vor Rosh HaShana entschließt, vielleicht EINE EINZIGE Mitzwah auf sich zu nehmen, der macht einen guten Start. Leider wird die Orthodoxie immer mit einem absolut ehrfürchtigen relig. Leben verwechselt. Man hält halt alle Mitzwot ein.
Ein Vorurteil, denn nicht jeder hält ALLES ein. KEIN Mensch ist perfekt auf dieser Welt und wird es auch nicht sein. Was wir Juden allerdings tun sollten ist, unser Potential zu erfüllen.

Individuell stattete uns G - tt bei der Erschaffung mit einem gewissen Potential aus. Welche Fähigkeiten ich habe und welche nicht. Bei jeder Handlung auf den Nachbarn zu schauen ist falsch. Lernt der eine die gesamte Thoralesung (Parasha) der Woche und ich nur halb, weil ich keine Zeit habe oder ich es aus sonstigen Gründen nicht schaffe, bin ich dann schlechter als der andere ? Warum immer auf andere schauen ? Es bringt mehr, sich auf sich selbst zu konzentrieren; gemäss dem eigenen Potential. Andere Leute haben ihre Lebensaufgabe und ich die meine. Der Eine ist schlauer, der andere weniger.

Im Chassidismus gibt es die äußert berühmte Story des Rabbi Susha von Hanipol. Rabbi Susha lebte im 18. Jahrhundert in Polen und war der Bruder des ebenso berühmten chassidischen Rabbiners, Rabbi Elimelech von Lejansk.

Einmal sagte Rabbi Susha zu seinen Schülern, dass G - tt nach seinem (Sushas) Tod ihn nicht fragen werde, warum er nicht wie Avraham (Avinu), Yitzchak, Yaakov oder Moshe gewesen sei. Vielmehr wird G - tt die Frage an mich richten: "Susha, warum warst Du nicht Susha ?"

Heißt, dass wir im Leben wir selbst sein sollen und nicht nur auf andere schauen und uns an diesen messen oder sie zu imitieren versuchen.

Nicht jeder orthodoxe Jude (männlich) zieht sich schwarz - weiss und nicht jede orthodoxe Frau läuft in langem Rock daher. Natürlich kommt es bei verschiedenen Gruppierungen auch auf das äußerliche Auftreten an, doch nicht nur. Zuerst einmal muss ich meine innere Einstellung haben und mit ihr positiv umgehen. Selbst wenn ich nur eine oder wenige Mitzwot erfülle, dies ist ein Beginn und ich sollte damit zufrieden sein. Viele Haredim sagten mir, dass sie nicht perfekt seien. Sie gaben zu, dass ihnen dieses oder jenes nicht (immer) gelingt. Manche meinten, dass sie zu derjenigen Mitzwah noch nicht bereit seien, aber darauf hinarbeiten.

Man sollte niemals eine Mitzwah von vornherein ablehnen und sagen, das sei eh Schwachsinn. Es gibt keine Mitzwah ohne Grund und wer diesen nicht gleich versteht, sollte einen professionellen Rabbiner fragen, bei dem man sicher ist, dass er eine Antwort kennt. Wenn nicht rational, dann finden wir viele Mitzwahgründe in der Kabbalah.

Die jüdische Orthodoxie ist kein Ballast, den man auf sich nehmen muss, eben um dazuzugehören. Jeder sollte hingegen seinen eigenen Weg und sein eigenes Tempo finden und mit langsamen Schritten zufrieden zu geben. Heute tue ich dies oder das noch nicht, aber ich behalte es im Auge und eines Tages, wenn ich es verstehe, erfülle ich die Mitzwah vielleicht. Zumindest sollte man nie etwas aus den Augen verlieren und es von vornherein als "idiotisch" abtun.

Genauso wenig sollten Leute in die Depression verfallen und meinen, es gelinge ihnen einfach nichts. Sich zuviel Druck aufzuerlegen bringt auch nichts und man sollte sich der langsamen Schritte gewahr werden. Das bekannteste Beispiel hierzu bildet vielleicht der talmudische Rabbi Akivah, welcher 40 Jahre benötigte, um zur Religion zu finden. Nicht, dass jetzt ein jeder auf die 40 Jahre schielt, dennoch aber sollte sich Zeit genommen werden.

Orthodoxie bedeutet im weitesten Sinne, G - tt als den alleinigen Schöpfer und die Thora als Sein Werk anzuerkennen. Eine Thora, die auf ewig Gültigkeit besitzt und niemals verändert werden darf.

Aufgeben, wenn etwas nicht gleich so klappt, sollte man nie. Wahrscheinlich fühlen sich deswegen viele Baalei Teshuva (Juden, die im späteren Verlauf des Lebens religiös werden) vom Movement der Chassidut Breslov angezogen. Insbesondere Rabbi Nachman von Breslov spricht sich in seinen Lehren gegen die Depression aus. Niemals sollte ein Jude aufgeben, eine Mitzwah zu erfüllen. Auch dann nicht, wenn es mir heute nicht gelingt; morgen ist ein neuer Tag. Der Fall ist ganz normal und nach jedem Fall gibt es ein Wideraufstehen.

Nicht nur Rabbi Nachman von Breslov lehrt dies, sondern ebenso die Chassidut Chabad (Lubawitsch). Auch der Alter Rebbe (Baal HaTanya oder Rabbi Schneur Zalman von Liadi), der Begründer von Chabad (Lubawitsch) lehrte das Konzept.

Zu den Themen "Orthodoxie" und "Haredim" gibt es dermassen unendlich viel zu sagen und beschreiben, sodass man nichts der Verallgemeinerung überlassen sollte. Vor allem nicht die Orthodoxen als Fundamentalisten abtun.

5 Kommentare:

  1. Anonym12:08 PM

    Warum sind evangelikale Christen deiner Meinung nach Fundamentalisten, während orthodoxe Juden nicht als solche abgetan werden sollten?

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  2. B"H

    Beide Gruppen sind Fundamentalisten, denn sie bestehen auf ihrem Glauben.

    Fundamentalistisch bedeutet nicht immer, dass jemand wild herumlaeuft und wer weiss was macht. Fundamentalistisch bedeutet im Gegenzug auch, dass jemand auf seiner Ueberzeugung beharrt.

    Im Uebrigens habe ich in dem Artikel versucht, die Orthodoxie etwas klarer darzustellen. Es gibt nicht nur DIE Orthodoxie, sondern verschiedene Richtungen.

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  3. Anonym2:49 PM

    Es gibt nicht die orthodoxen Juden. Ich dachte, das wäre eigentlich klar.

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  4. Anonym7:48 PM

    In Ordnung. Dem schließe ich mich an.

    Was verstehst du unter Fanatismus, Fanatiker, fanatisch, fanatisieren?

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  5. B"H

    Es kommt drauf an, wenn genau Du damit meinst.

    Zum Beispiel sind in Bezug auf das "Religioes werden" nicht wenige Baalei Teschuva dabei zu eifrig bei der Sache und uebertreiebn. Man kann nicht heute Schweinefleisch und morgen nur noch rieisg koscher Essen. Dies meine ich nicht unbedingt woertlich, sondern will damit sagen, dass der Prozess des Relig. werdens ein langwieriger ist.

    Nicht jeder muss super relig. werden, sondern sollte sich vielleicht erst einmal auf ein oder zwei kleine Inhalte konzentrieren !

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